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ROBBINS LIBRARY
DEPARTMENT OF PHILOSOPHY
Sokrates und die Ethik.
Herman Nohl.
Tübingen und Leipzig
Vertag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen und Leipzig.
ETHIK.
Von
D. W. Herrmannj^
Professor der Theologie an der Universität Marburg.
Dritte Auflage.
(Grundriss der theologischen Wissenschaften. V n.)
8. ca. M. 3.60. Gebunden ca. M. 4.60.
(Unter der Presse.)
ETHIK.
Von
Dr. A. Hoffmann^
Pfarrer in Gruibingen (Württemberg).
8. 1897. M. 2.50. Gebunden M. 3.50.
Einleitung in die christliche Ethik.
Von
Professor Dr. H. Weiss.
Gross 8. 1889. M. 5.—. Gebunden M. 7.—.
(Sammlung theologischer Lehrbücher.)
Die Psychologie in Kant's Ethik.
Von
D. Alfred Hegler^
weil. Professor in Tübingen.
8. 1891. M. 8.—.
Ethisches Wissen und ethisches Handeln.
Ein Beitrag zur Methodenlehre der Ethik
von
Dr. Paul Hensely
jetzt Professor an der Universität Heidelberg.
8. 1889. M. 1.50.
Wissenschaftliche Ethik
und
moralische Gesetzgebung.
Grundgedanken einer Kritik der gegenwärtigen Ethik
von
D. Otto Ritschi,
Professor an der Universität Bonn.
8. 1903. M. 1.—.
Sokrates und die Ethik,
Sokrates und die Ethik.
Herman Nohl.
Tübingen und Leipzig
VsTÜg von J. C B. Mohr (Paul Siebeck)
1904.
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HARVARD uwvmmr.
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Die VerJagahandltmg behält sich das Becht der Uebersetzwng
in fremde Sprachen vor.
C. A. Wagners Universitäts-Buchdruckerei, Freiburg i. Br,
Meinen lieben Eltern
Inhalt.
Seite
Einleitung 1
I. Skeptizismus und Idealismus der Subjektivität ... 4
n. Aufklärung 11
in. Pädagogik und Ehetorik 26
lY. Der neue Erfahrungsstandpunkt 33
V. Freiheit 61
VI. Die Aporie des Sokrates 55
Vn. Grund der Aporie und ihre Konsequenzen bei den
Schülern 64
— 1 —
Das Verständnis einer grossen historischen Erschei-
nung wird immer dadurch allein gefördert, dass die Er-
kenntnisstellung der eigenen Zeit, ihre neu errungene
Antwort auf die Fragen des Daseins die Vergangenheit
Ton neuem erhellt. Mir hat die Ueberzeugung von der
Irrationalität des Lebens und der Unmöglichkeit, das
ethische Verhalten des Menschen begriflflich fassen zu
können, das Licht gegeben, mich in dem so durch-
wühlten Labyrinth der sokratischen Frage zu orien-
tieren und, wie ich glaube, diese ewig zu betrachtende
Tatsache von neuem fruchtbar zu behandeln.
Das sokratische Bekenntnis des Nichtwissens rückte
mir damit an die entscheidende Stelle der Untersuchung;
es war das notwendige Ergebnis einer Fragestellung,
die die Werte und Güter des Willens nicht einseitig
konstruieren, sondern in ihrer Totalität begreifen will.
Die Tatsache, dass die Dialoge des jungen Plato eben-
falls alle erfolglos enden, legte die Annahme nahe, dass
die Voraussetzungen, die hier gelten und eine Lösung
nicht möglich machen, in dem Standpunkt des Sokrates
gegründet sind, der dann von hier aus naher bestimmt
werden konnte. Diese Kombination vermag den ab-
Nohl, Sokrates und die Ethik. 2
— 2 —
gegriffenen sokratischen Sätzen vielleicht einen neuen
Glanzblick zu entlocken; ich verdanke sie meinem hoch-
verehrten Lehrer, Wilhelm Dilthey. Die neue Antwort
gab neue Fragen. Die wichtigste war mir die nach der
Möglichkeit des seltsamen Erfahrungsstandpunktes des
sokratischen Idealismus, der den Meister vollständig
trennt von seinen Schülern, wie von der vorangegangenen
Spekulation und Sophistik. Ob mein Versuch, ihn zu
der neuen Medizin in Beziehung zu setzen, gelungen ist,
weiss ich nicht, von der Tatsache der Abhängigkeit bin
ich aber überzeugt, auch wenn ich es nicht bewiesen
habe. Es werden das dann andere tun, denen die
Uebersicht über die Quellen leichter und weiter ist, als
dem Philosophen; der bleibt auf dem Boden des Alter-
tums immer ein fremder Gast, das ist keinem mehr be-r
wusst als mir. Es wird trotzdem von Wert sein, wenn
er die Mittel, die ihm aus seiner Lebensbeschäftigung
geworden sind, auch dort einmal anwendet, so viele
Schwierigkeiten und Gefahren ihm der Stoflf auch hier
bereitet. Durch die endlose Literatur habe ich mich
natürlich hindurch gelesen. Das eine oder andere Buch
mag ich doch übersehen haben. Geholfen hätte es
mir wohl kaum. Zu Grunde liegen immer dieselben
Stellen, die in ihrer schillernden Lebendigkeit so rätsel-
haft vielseitig sind, dass sie, neu verschoben, immer
neue Ansichten zeigen. Wie in einer chemischen Lö-
sung sich die Stoffe um jedes Fädchen kristallisieren,
so lässt sich auch hier das Material immer neu ge-
stalten. Wer will das erschöpfen? Auch ich habe
nur einzelne Stücke herausgreifen wollen; für den, der
die Quellen kennt, gruppieren sich die zahllosen Teil-^
]
eben, die unberücksichtigt blieben, schnell von selbst.
Die tiefsinnige Darstellung Hegels, die einfache Poesie
Ivo Bruns', die geistvolle Polemik Pöhlmanns, wie die
leidenschaftliche Innerlichkeit des Diltheyschen Kollegs
behalten ihren zeitlosen Wert, und vieles fehlt in
meiner Arbeit nur, weil ich vrusste, wie gross und
schön es in diesen Werken zum Ausdruck kam. Auch
dem Buche Joels verdanke ich viel und habe es
immer, wenn ich auch meistens anderer Meinung war,
neben mir gehabt. Die Polemik habe ich wie über-
haupt, so auch hier vermieden, und wer die ungeheure
Arbeit kennt, die in diesen drei Bänden gerade durch
die mühselige Auseinandersetzung mit der ganzen Lite-
ratur geleistet ist, wird das verstehen. Aber auch über
die Benutzung der Quellen eine ausführliche Recht-
fertigung vorauszuschicken halte ich für zwecklos. Nach
meiner Kenntnis hat diese alte Gewohnheit zu gar keinem
Erfolg geführt, man kann bei der schönsten allgemeinen
Aufstellung nachher doch noch ganz falsch greifen. Es
gibt eben hier keinen einzigen festen Punkt und Mass-
stab. Auch die platonische Apologie und den Aristoteles
muss man so kritisch gebrauchen wie die Memorabilien.
Jede einzelne Stelle will immer von neuem auf ihre
Beweisfähigkeit geprüft sein. Das Entscheidende bleibt
schliesslich doch die leitende hypothetische Anschauung
von der Struktur der Person und der möglichen Ent-
wicklung des ganzen Zusammenhangs, gewonnen aus
der Kenntnis der philosophischen Probleme, ihren typi-
schen Lösungen und ihrer eigenen Dialektik. Diese
herauszuarbeiten aus dem Material ist meine ganze Mühe
gewesen.
1*
— 4 —
Das letzte Ziel bleibt immer der Blick in den
geschichtlichen Grund unserer eigenen Ueberzeugung,
ihre Bewährung vor der historischen Besinnung über
den Gang des Denkens, die mehr ist als die bloss ra*
tionelle Kritik, die jeden fremden Standpunkt widerlegt,
statt ihn in seinem produktiven Wert zu begreifen. Dar-
über hinaus aber geht das Nacherleben eines Menschen,
der unsere Existenz in der erhabensten Weise durch-
gemacht hat. Nur so erfahrt der Mensch, was er ver-
mag. An der fremden Grösse steigert sich das eigene
Wesen und wächst in seinem besten Willen. Das ist
die lebendige ethische Bedeutung der geschichtlichen
Arbeit.
I.
Skeptizismus und Idealismus der
Subjektivität.
Wie ein Bildungsgesetz des „Idealismus der Sub-
jektivität"^ erscheint in der Geschichte dieser Lebens-
anschauung die innere Verbindung mit dem Skeptizismus.
Wenn sich die Aussenwelt dem Begreifen verschliesst,
wenn die bisherigen Denkmittel ihre Gültigkeit zu ver-
lieren drohen, flüchtet sich das nach Sicherheit und
Wahrheit verlangende Subjekt in die Gewissheit seiner
Innerlichkeit. Hier in den grossen Erlebnissen seiner
Seele entdeckt es die Kealität, die ihm genug tut, die
es sich verständlich machen muss. Und es glaubt hier
* lieber den Idealismus der Subjektivität vgl. Dilthey im Ar-
chiv f. Gesch. der Philos. XI 551 ff.
— B —
zum Ziel gelangen zu können, weil ihm die Begriffe,
mit denen es zu tun hat, und der Massstab, an dem sie
sich bewähren müssen, als aus ihm selber stammend
sichtbar werden.
Die Art und "Weise, wie diese Entwicklung vor
sich geht, ist verschieden gewesen. Immer aber blieb
die irgendwie bestimmte Verneinung von Erkenntnis,
und zwar mit steigender Vertiefung, das Moment, wel-
ches das Bewusstsein der Person, ihren Besitz und
ihre Wünsche hervortreibt. Ein kurzer Ueberblick ge-
nügt, das zu zeigen.
Im Bringen mit dem unfassbaren Wandel der Er-
scheinung, wie er von Heraklit überkommen war, mit den
Aporien des Wissens, die in den sokratischen Schulen
auf allen Seiten auftauchten, ging Flato^ zurück in die
Seele und ihren transzendenten Gehalt. Gegenüber der
Kritik des Kameades hat sich die willensmächtige Form
der neuen Stoa in Fanätius erhoben. Als in der ]^sis
der antiken Systeme das Kriterium der Wahrheit zu ver-
schwinden scheint, bäumt sich die praktische Gewissheit
im römischen Geist empor, und in dem unmittelbaren
Bewusstsein wird die Norm gefunden. Mit seinem in der
Schule Hegels für solche Dinge geübten Auge hat Zeller*
hier dieses Verhältnis wohl gesehen. Sein Irrtum aber
ist, dass er in dem „Frinzip des unmittelbaren Wissens",
des „Vertrauens auf dasjenige, was dem Menschen vor
aller wissenschaftlichen Untersuchung gewiss ist", bei
Cicero und andern nicht mehr entdeckte als „den letzten
* Vgl. die Erzählung seiner Entwicklung im Phädon 96 — 100.
« Zeller im 540 ff.
— 6 —
Halt in dem eklektischen Schwanken". Er fühlte hier
die lebensstarken Grundlagen dieses Standpunktes der
Persönlichkeit nicht heraus. Schliesslich war dann doch
der Skeptizismus das Grab des antiken, rational zer*
setzten Geistes, und im Christentum erfuhr der Mensch
seine Wiedergeburt, sein neues „Leben". Von allen
Seelen, die damals dieses Schicksal durchmachten, hat
es am tiefsten Augustin ausgesprochen. Und er fand
die wissenschaftliche Begründung des neuen Standpunktes,
indem er sich mit der Akademie auseinandersetzte und
die Selbstgewissheit an den Zweifel selber knüpfte ^ wie
es dann im 17« Jahrhundert der französischen Skepsis
gegenüber Descartes ganz ebenso tat. Dass auch die
schottische Schule ein „Erzeugnis" der Himieschen
Kritik war, darauf macht schon Zeller' aufmerksam.
Auch Kant ist von ihr bedingt und entdeckte hinter den
Antinomien die Wahrheit des schöpferisch-tätigen Sub-
jekts. Von Zinzendorf^ bis Hamann^ und Jakobi
hat sich der christliche Glaube so orientiert. Fichtes
Steigerung des Kantischen Idealismus hat zur Voraus-
setzung die Kritik des Aenesidemus-Schultze. Und noch
der moderne Standpunkt der Selbstbesinnung, in
dem diese ganze Arbeit erkenntnistheoretisch ihre wissen-
schaftliche Vollendung fand, entwickelte sich seit Locke^
an dem Skeptizismus. Stets ist damit verbunden ein
frisches Aufnehmen der ganzen Lebenstätigkeit auf tieferer
> Dilthey, Einleitung S. 329 f.
« Zell er m^ 542 Anm.
» Sokrates 1725.
* Sokratische Denkwürdigkeiten 1759.
* Vgl. Untersuchungen über d. m. Verst., besonders IV 12 ii.
— 7 —
Grundlage, ein neues Fundieren des gesamten Wissens
und, gegenüber den Problemen der "Wahrheit und des
Wollens, ein vorläufiges Zurücktreten der äusseren Welt.
In dem Lebensgefühl des Sokrates ist diese Dialektik
zum erstenmal wirksam gewesen, wie er denn auch meistens,
wenn sie in der Geschichte von neuem auftrat, gegen-
wärtig war. Die richtige Perspektive für ihn gewinnt
man am leichtesten, wenn man dieses Verhältnis des
Skeptizismus zu seinem Bewusstsein zunächst heraushebt.
In irgend einer Weise — wir werden nachher sehen, ob
sich da vielleicht eine bestimmtere Möglichkeit zeigt —
hat er die Schule der vorangegangenen Skepsis, wie sie
die Jünger der Eleaten und des Heraklit sowohl, als
die neue Medizin gleichmässig entwickelt hatten, durch-
gemacht. Auch ihm ist die Aussenwidt verschlossen,
alle Aussagen über sie widersprucli«voll. (Xen. Mem.
1 1 11—14, Plato Apol. m 19 D.) Ob die Begründung dieser
Skepsis, die ihm Xenophon in den Mund legt, seine
eigene war und ob sie ihm ausreichend erschienen wäre,
wissen wir nicht, doch ist es wahrscheinlich. Sicher ist,
dass für ihn fcein Weg in die kosmische Natur führt,
dass ihm aber, gegenüber diesem Verzicht, die Eealität
-der «Chischen Begriffe und die Möglichkeit, sie rationell
zu begreifen, feststeht — nicht Bealität überhaupt, da-
von weiss der Grieche noch nichts (vgl. Dilthey, Ein-
leitung S. 224); es handelt sich hier immer erst nur um
die Realität des Wissens. —
Das war seine Voraussetzung, und er begründete sie
zunächst mit der Notwendigkeit des Lebens K Der Wider-
* Mem. I 1 12—16.
— 8 —
streit der Begriffe, der ihm in der Naturphilosophie jedes
Begreifen zu verbieten schien, ist ihm hier die Auffor-
derung zu seiner Lösung. In allen Wissenschaften des
praktischen Lebens ist man einig über Zweck und Mittel,
nur über gut und böse, gerecht und ungerecht ist man
es nicht. Sokrates schliesst jetzt nicht: „also gibt es
kein "Wissen", sondern: „es muss gesucht werden". Der
praktisch-ethische Wille in ihm fordert eine Erkenntnis
des Lebensziels. Und die Möglichkeit, hier zur Einsicht
zu gelangen, scheint ihm vorhanden, weil die Begriffe
und Tatsachen, um die es sich handelt, in dem Bewusst-
sein des Menschen selber gegeben sind (vgl. Charmides
159 A. s. u.), weil hier jede Aussage an der Erfahrung
und dem Bewusstsein des andern geprüft werden kann.
Aber auch hier schiebt er mit einem mächtigen Ent-
schluss die gewohnten Urteile beiseite. Der ganze em-
pirische Gehalt des Bewusstseins hat keine Gültigkeit,
denn er ist nicht wahrhaft gewusst. Ja Sokrates muss
eine Zeit seines Lebens — wie Kant, als er seine „Träume
eines Geistersehers" schrieb, in denen er sich auf Sokrates
beruft — auch hier im Zustand der skeptischen Rat-
losigkeit gewesen sein (Apol. 21), bis die Erkenntnis
des Nichtwissens der Anfang des neuen Wissens wurde.
Ein ähnlicher Moment war das, wie ihn später Des-
cartes durchlebte. So hat er seine positive Lebens-
arbeit mit dem absoluten Zweifel begonnen, in dem das
„Ich weiss, dass ich nichts weiss" den festen Punkt der
ersten Gewissheit darstellt; denn damit ist das Bewusst-
sein einer wahren Erkenntnis aufgegangen, als eines Zu-
sammenhanges begründeter Urteile, der keinem Wider-
spruch unterliegt. Das ist sein Wissen, zunächst ein
rein formales, mit dem er sich aber der ganzen Zeit
überlegen fühlt. Nur auf diese Weise lässt sich die
merkwürdige Schilderung der Apologie verstehen, in der
die Aufdeckung des Nichtwissens scheinbar das letzte
Ziel ist.
Das neue Wissen nach seinem Inhalt wird nun
gesucht durch methodische Selbstbesinnung. Der Gehalt
der Seele enthält selber seine Wahrheit. Das ^vA^t csaoTÖv
ist nicht bloss jene negative Einsicht der eigenen Un-
wissenheit, dies seltsame, intellektuell-ethische Gegenbild
zur christlichen Unwürdigkeit, sondern ist sein wissen-
schaftliches Verfahren, das auf positives Wissen ausgeht.
Die genaue Beschreibung dieser Selbstbeobachtung, deren
erkenntnistheoretische Bedeutung ihm augenscheinlich
ganz klar bewusst ist, findet sich im Charmides 169 A:
„Auf folgende Art scheint mir die Untersuchung darüber
am besten vor sich zu gehen. Offenbar wirst du doch,
wenn dir Besonnenheit beiwohnt (wdipeaTt), etwas über sie
auszusagen wissen, denn notwendig muss ihr Einwohnen,
wenn sie in dir ist (Iveott), irgend eine Empfindung
(aia*7]otc) hervorbringen, woraus dir dann eine Vorstel-
lung über die Besonnenheit entsteht, was sie ist. Und
dies muss sich auch aussprechen lassen, als was sie
dir erscheint." Man denke dabei an die Aporien des
Gorgias. Und dann wieder 160 D E: „Noch genauer
aufmerkend und in dich selbst blickend, beobachte, wozu
dich die dir einwohnende Besonnenheit macht, und was
sie wohl sein muss, um dich zu einem solchen zu machen
und dies alles zusammennehmend (aoXXo7tod[jL8voc) sage,
als was sie dir erscheint." Ganz ebenso im Laches
189 E— 190, 193 E, 194 B C. Der Besitz der Seele soll
— 10 —
durch die Bede logisch begründet werden. Das Vorhanden-
sein der Tapferkeit in den Unterrednern wird zunächst
sogar von Sokrates selbst anerkannt (193 E.). Dann
erscheint der Gegensatz, der im Xenophon eine solche
Rolle spielt: ^pYq) jiiv ifdp, ü)c Sotxe, ^aiTj äv ttc fj|i.a<;
dvSpstac (JLST^x^iv, Xöycp Sk oox. Von diesem Satz aus
überschaut man den I^ortgang von Sokrates zu Plato
sowohl wie zu Antisthenes ganz: die grossen Tatsachen
sind unwiderleglich y sie wohnen der Menschenseele ein.
Lässt sich die ihnen immanente Logik nicht finden,
— und das sollte die Erfahrung des Sokrates werden —
so erfindet man die Hypothese einer transzendenten Logik
gleichsam, in der die Prädikate der Seele sich als meta-
physische einreisen und die Begriffe, die ihr beigegeben
werden köAnen, zu Ideen werden, oder man wirft die Logik
überhaupt beiseite und hält sich an das Erlebnis. So wird
sich uns später die Entwicklung darstellen. Zunächst aber
hat dasr Bewusstsein an sich selbst genug und glaubt, sich
ganz verständlich werden zu können. Als wahr erscheint
jedes Urteil, das dem Satz des Widerspruchs nicht unter-
liegt uhd sich in der Einheit des Geistes bewährt. Es ist
die dein Idealismus der Subjektivität eigene Methode, die
hier zWar — wie wir sehen werden — unter den merk-
würdigen historischen Bedingungen der Rhetorik als der
Form des wissenschaftlichen Betriebes in der Gestalt des
Dialogs und Angeregt durch das Vorbild der Medizin
sich entwickelt, deren letzter Erkenntnisgrund ^Jaer wadsL
hier das sittliche Bewusstsein und die Behauptung seiner
Einheit ist.
— 11 —
n.
Aufklärung.
Damit ist aber gleichsam nur der geometrische Ort
der sokratischen Philosophie bezeichnet, nicht eigentlich
ihre historische Lage. Man hat den Gang der griechischen
Philosophie, mit falschem Absehn von dem ganzen Zu-
sammenhang der Kultur, gemäss dem Lockeschen Ge-
setz^ von der Entwicklung der Reflexion meist so kon-
struiert, dass der jugendliche Mensch zuerst die Aussen-
welt betrachtet und dann den intellektuellen Kosmos
entdeckt habe. Joel urteilt zu freundlich darüber, wenn
er diese Scheidung in seinem schönen Rektoratsprogramm :
„Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geist der
Mystik" als didaktisch rechtfertigt. Sie ist der naive Rück-
stand unhistorischer Betrachtungsweise und, wenn die Be-
trachtung der Vergangenheit uns heute vor allem geschicht-
liches Verstehen lehren soll, so undidaktisch wie möglich*.
Schon in den orphischen Lehren ist der Standpunkt
vorhanden, der von den Geschehnissen der Innenwelt
ausgeht. Die geheimnisvolle Grösse des Anaximander,
^ Locke, Essay II 1 8.
* Wie ich denn überhaupt den Glauben an den pädago-
gischen Wert der griechischen Philosophie als Einführung in
das Verständnis phüosophischer Probleme nicht teilen kann. Auch
hier steht im Hintergrund noch der alte Irrtum von der Einfachheit
des griechischen Geistes oder gar von einer abstrakten Abfolge
der Probleme. Die Fetzen des Materials, mit denen man arbeiten
muss, die ganz andern Bedingungen, unter denen hier die Ent-
wicklung vor sich ging, machen ein Begreifen unendlich schwierig.
Wer Botanik lernen will, beginnt nicht mit der Paläontologie.
Hier hilft nur eine vergleichende Wissenschaft, und die setzt die
relative Kenntnis des Nächsten immer voraus.
; — 12 —
Pythagoras, HerakUt und Pannenides wurzelt darin, wie
sie das Lebensziel eingefügt haben in ihr "Weltbegreifen.
Andrerseits gehört Demokrit nach der Struktur seines
Systems nicht mehr unter die Vorsokratiker, wohin man
ihn nach dem Schema meist gestellt hat. Wem es nicht
auf eine säuberliche Dialektik ankommt, und wem das
Nebeneinander menschlichen Geistesreichtums auch hier
überall sichtbar werden soll, wird sich für ein Verständ-
nis der Entwicklung und ihrer Einheit ein Prinzip suchen
müssen, das tiefer in die Tatsachen hineinsehen lässt.
Von den Gesichtspunkten, die hier möglich sind, er-
scheint mir für meine Zwecke der entscheidende: das
allmähliche Wachsen der Helle des Bewusst-
seins. Das Fortschreiten vom mythischen Verstehen
durch die Metaphysik zur positiven Erfahrungswissen-
schaft, wie es durch das Dreistadiengesetz ausgedrückt
wird, das Dilthey auch für die griechische Geschichte
nachgewiesen hat, ist nur ein Schnitt durch einen viel
allgemeineren, das ganze seelische Leben durchziehenden,
kontinuierlichen Prozess der Aufklärung^, in dessen Fort-
gang sich die drei Stufen aufweisen lassen: die Zeit, in
welcher der Mensch nur religiös apperzipiert und Trieb
und Assoziation herrschen, die Periode der einfachen,
aber totalen rationalen, und schliesslich der historischen
* Joel a. a. 0. S. 73 wendet sich gegen die Auffassung der
Geschichte als „gradlinigen Fortschritts zur Aufklärung^. In der
Entwicklung, wie ich sie mir vorstelle, hat auch der religiöse In-
dividualismus jener Tage, wenn man die Dinge, wie Joe! selber, ver-
gleichend betrachtet, seine gesetzmässige Stelle. Die Aufgabe ist,
zu zeigen, welchen Anteil die Intellektualität an diesen Erschei-
nungen hat, erzeugend und zerstörend. G-erade der Schluss seines
Prograrames (S. 94) ist dafür beweisend.
— 13 —
Reflexion. Von allen Entwicklungen, die wir kennen,
zeigt keine das langsame Herausarbeiten des logisch-
verständigen Denkens aus mythisch unbewusstem Vor-
stellen, das Zergliedern und Auflichten des geistigen
Inhalts, die Ablösung und Diflferenzierung der einzelnen
seelischen Kräfte aus dem einheitlichen Grunde und ihre
Durchsetzung mit den rationalen !E^lementen, schliesslich
das Entstehen des historischen Bewusstseins so organisch,
wie die griechische, und diese wird darum für ein ver-
gleichendes Studium der Funktion der Intellektualität im
„Haushalt des geistigen Lebens" und eine beschreibende
Psychologie von der grössten Wichtigkeit sein. Eine
vollständige Erkenntnis dieses Prozesses, der Bedeutung
und Wirkung des Verstandes, auf der breitesten histo-
rischen Grundlage scheint mir eine der Hauptaufgaben
der Gegenwart^: die endgültige Lösung eines Kampfes,
in dem zuletzt noch Nietzsche stand; ihm symbolisierte
sich damals die Reflexion in der Gestalt des Sokrates.
Einstweilen machen sich für die Wertung der Ver-
nunft zwei Massstäbe geltend. So fruchtbar das leise
steigende Aufleuchten des lumen naturale für die bil-
denden Mächte des Menschen ist, solange es gleichsam
nur von innen strahlt, z. B. in der Kunst wirksam ist
als Verknüpfung, Beziehung, Dringen auf Ganzheit und
Einheit, Klarheit und Motivierung etc. — mit dem Augen-
blick der totalen Reflexion, wann die Intelligenz heraus-
tritt und von aussen schaut, beginnt der zerstörende Ein-
fluss auf alle schöpferischen Funktionen. Kraftvolles
Handdn, religiöse Energie, künstlerische Produktion jeder
* Vgl. meinen Aufsatz über A. Feuerbach in Westermanns
Monatsheften, August 1904.
— 14 —
Art vertragen nach einem inneren Gesetz diese ewige
Selbstbesichtigung nicht. Mit diesem Gefühl hatten Sturm
und Drang, Herder vor allem und Jakobi, dann Goethe
und Schiller, die Romantik und Nietzsche der Aufklärung
gegenüber gestanden und von hier aus die griechische
Existenz, die sie davon frei glaubten, beneidet. Und doch
begann damals für sie erst noch die historische Brcflexion,
der das junge Leben wieder unterlag, um zu höheren Zielen
und vollendeter Freiheit zu gelangen. Jene Wertung der
Brationalität ist aber in vielen Darstellungen noch wirksam
bei der Beurteilung der Sophisten, des Euripides, der Hin-
richtung des Sokrates, in der Vernachlässigung der grie-
chischen Wissenschaft, vor allem der späteren Zeit.
Der positive Gehalt dagegen des Wachstums der
Vemiiinft, den für die moderne Geschichte der Positivis-
mus zuerst gesehen hat, ist die Erringung der Autonomie
des Menschen und seiner Gewalt über das Dasein, die
Beweglichkeit und der Reichtum seines Lebens, Sicher-
heit und Fortschritt, wie ihn das stets progressive Prin-
zip des Wissens gewährt.
Diesen Wandel von naivem zu bewusstem Dasein,
Handeln und Schaffen, wie er in Griechenland auf allen
Seiten vor sich ging, weiter zu verfolgen, ist hier nicht
nötig, er kann nur angedeutet werden. Am sichtbarsten
aufbewahrt ist er für uns in der Poesie, in ihrer Sprache
und Form wie in ihrem Inhalt. Die wunderbare Kom-
position der grossen homerischen Epen war die reife
Frucht der immanenten Reflexion, aber schon spürt man
in manchen Versen, vor allem in dem hier und da
ariostisch und cervantisch aufblitzenden Humor, dass das
Gefühl vorhanden ist, einer abgelebten Form des Daseins
— 15 —
gegenüberzustdien. In der Parodie schafft sich dies
Gefühl, wie so oft, seine eigene Form. Mit offenem
Visier tritt die neue Geistesverfassung aber auf in jenen
Versen der Theogonie:
„Wir verstehen eine Lüge der Wirklichkeit gieichzugestalten,
Doch wir verstehen auch, wenn wir nur wollen, die Wahrheit zu
künden.**
Eine Dichtung, die so beginnt, ist didaktisch, ist irgend-
wie auf Höherbildung gerichtet — „ein Buch zur Er-
ziehung, zur Stärkung des sittlichen Gefühls**^ — .
Das Subjekt spricht hier und seine Kritik. Die tiefe
und reine ethische Kraft, die die Menschen der Ilias und
Odyssee trotz der wilden Affekte so selbstverständlich
beherrscht, und der die eigene kindliche Interpretation
noch so gar nicht gerecht werden kann, ist verschwunden,
und die moralische Reflexion will das Leben leiten. Es
kommt die Zeit der Fabeln, Gnomen, des Lehrgedichts
und der subjektiven Lyrik. Ideale, abstrakte Zusammen-
hänge, die der Wirklichkeit entgegengehalten werden,
machen den Gehalt dieser Dichtung aus; der Affekt, diese
rationalen Aufgaben zu verwirklichen, an diesen Be-
ziehungen sich zu orientieren, gibt die poetische Gewalt.
Die grossen Dramen sind zugleich die Schlachtfelder der
neuen Zeit, in denen die religiös ethische Entwicklung des
Volkes vor sich geht, ähnlich wie bei uns die Dichter, vor
allen Lessing und Goethe, in ihren Werken die neue Le-
bensanschauung schufen. Die Kritik des Sagenstoffes aus
dem moralisch rationalen Gesichtspunkt macht sich schon
in dem Chorgesang des Stesichorus bemerkbar ^ Die
> Wilamowitz, Gr. Trag. I 18.
' Diagoras von Melos zeigt die Entwicklung ganz scharf, in-
— 16 —
bedeutendsten Dramen von Aeschylos und Sophokles
versteht man nur, wenn man sich die Arbeit auf einen
idealen transzendenten Zusammenhang bewusst hält, die
hier immer am Werk ist. „In der Orestie hat der Dichter
einen so unverhältnismässig breiten Raum der Betrach-
tung über göttliche und menschliche Dinge gewidmet,
dass man sieht, er hat die Geschichte als Exempel für
seineLehre hierüber dramatisiert." (Wilamowitz, Griech.
Trag. I 13.) In der Antigone wird sich der Mensch
seiner Autonomie wunderbar ahnend bewusst. Und wie
steigert sich das bei Euripides, in dem sich die Poesie
der Leidenschaft und die Prosa des Denkens so geheim-
nisvoll begegnen, wie in der Komödie des Aristophanes,
in der das neue geschichtliche Gefühl jene Dämmer-
stimmung erzeugt. Bis dann die Rationalität Sieger ist.
Während für die poetische Form nur der Naturalismus
als neuer künstlerischer Ausdruck des Verstandes übrig
bleibt und schliesslich die historische Reflexion mit der
Nachahmung einsetzt und das Idyll hervorbringt, beginnt
die grosse Prosakunst in der Geschichtschreibung des
Herodot und Thukydides, der Rhetorik des Gorgias und
des Isokrates — für deren Verständnis man an die
humanistische Literatur und die theologische Beredsam-
keit im 17. und 18. Jahrhundert denke — und der philo-
sophischen Dialogliteratur, die auch bei uns ihr Analogen
hat, zu welchen Formen dann der didaktische Roman mit
der Cyropädie tritt. Parallel geht damit die Auffassung
vom Dichter als dem „Lehrer" des Volks, poetische
dem er die Existenz der Götter, deren Macht er einst selbst yer-
herrlicht hatte, in seinen „vom Turm stürzenden Reden** leugnete,
weil er keine Gerechtigkeit im Weltlauf zu sehen vermochte.
— 17 —
Kritik, bis Sokrates kommt und die Dichter auf ihr
Wissen prüft (Apologie) und ihnen beweist, dass es das-
selbe sei, gute Komödien und gute Tragödien hervor-
zubringen. Damit ist der intellektuelle Gehalt als das
einzige von Interesse herausgehoben.
Das Organische dieses Prozesses beweisen am besten
die Dramen des Euripides, in denen bei aller Kraft
der Reflexion die Substanz der mythischen Eeligiosität
und die elementare Gewalt der Leidenschaften noch in
mächtiger Aktion sind, ein Zustand, der für uns nicht
verständlicher aber deutlicher wird, wenn wir an die
Mythen und die Kunstform der platonischen Philosophie
und an das Dämonium und den Traumglauben ^ des
Sokrates denken. Dass die Wirkung des Verstandes
auf die Kunst auch schon damals als zerreissend emp-
funden wurde, zeigt der Hass des Aristophanes auf
Sokrates und Euripides, besonders jener Vers in den
Fröschen, den Nietzsche sich in seine Papiere schrieb:
Heil, wer nicht an Sokrates'
Seite sitzend schwitzt und schwatzt,
Sich um die Kunst der Musen lügt
Und sich des Schönsten, was die Tragödie
Je geschaffen, selbst beraubt!
Von den beiden grössten Schülern des Sokrates inter-
pretierte der eine, Antisthenes, den Homer allegorisch*,
und der andere, Plato, dem von seinem , radikalen,
rational-moralischen Gesichtspunkt aus das seltsame
Entwicklungsgebilde der griechischen Dichtung mit sei-
ner widerspruchsvollen Mischung von Mythos und Re-
' Vgl. Kriton und Phädon.
* Vor ihm schon Anaxagoras und Metrodor und Prodikos.
Nohl, Sokrates und die Ethik. 2
— 18 —
flexion, Ueberlieferung und Ideal nur verderblich er-
scheinen konnte, verwarf sie überhaupt; trotzdem er
selbst, wie Antisthenes, das Unproduktive des Ver-
standes und das Herausströmen echter Poesie aus den
unbewussten Tiefen der Seele wieder anerkannte (Phä-
drus 245, Jon 533/534), Aristoteles erscheint dann auch
hier als der Totengräber der antiken Produktion.
Die bildende Kunst ^ vor allem die Bildhauerei,
ist diesem Schicksal der intellektuellen Zersetzung erst
viel später unterlegen, weil sie ein Handwerk war, die
„schweigsame"^ Arbeit des Banausen. Das dilettantische
AUeskönnen und Beschwatzen des freien Griechen blieb
der schmutzigen Werkstatt fem, und der bildende
Künstler ist immer derjenige gewesen, dem das Wort
und das Gerede über seine Arbeit, solange es irgend
ging, am fernsten gelegen hat. So hat sich auch in
Griechenland relativ spät erst und sparsam die Theorie
ihrer bemächtigt, in der Tradition der Schulen wächst
ihr Können langsam und organisch weiter. Man muss
ihre Entwicklung stets besonders betrachten, wie bei uns
die der Musik ^, die aus ähnlichen Gründen fast zwei
Jahrhunderte lang der Kritik entging. Sie hat naiv
aus dem Mythus heraus künstlerisch echt und frei
schaffen können zu einer Zeit, wo sonst das Wissen
alles zersetzte und regierte. Ganz so unbehelligt von
den Philosophen, wie Burckhardt es darstellt, blieb sie
» Burckhardt IH 51, IV 135 ff., 398 ff.
■ Goi^as 450.
' Die griechische Musik ist früh von der Theorie gefasst
worden, doch sind die Verhältnisse hier so schwierig, dass ich jetzt
nicht darauf eingehen kann.
— 19 —
allerdings nicht. In Xenophons Memorabilien finden sich
Gespräche des Sokrates (III 10) mit den Malern und Bild-
hauern, und auch hier sucht er ihnen an Stelle naiven
Produzierens und Bildens an der körperlichen Erschei-
nung, vor allem der Binger, Läufer, Faustkämpfer und
Pankratiasten die Augen zu öffnen für das wahre Ziel
einer moralischen und seelischen charakteristischen Kunst.
Die Intellektualität will sich und ihre Ideale sehen. Im
Hippias d. Gr. und Mem. III 8 erscheint eine Aesthetik,
die die Formenschönheit aus der Erfüllung des Zweckes
interpretiert. Aber das sokratische Interesse scheint
vereinzelt dazustehen — war er doch selbst ursprüng-
lich wie sein Vater Bildhauer gewesen und sein Verhält-
nis zur Technik des Handwerks ein ganz besonderes ihm
eigentümliches. Auf jeden Fall blieben diese Ansätze
zunächst ohne Wirkung.
Die Durchsetzung der Intellektualität im wirt-
schaftlichen und politischen Leben ^ und die da-
durch bedingte Entwicklung hat Pöhlmann dargestellt.
Von grosser Bedeutung ist hier die bewusste Schöpfung
der Kolonien. Die wichtigsten Stufen sind die Be-
seitigung der Geburtsaristokratie, das Entstehen der
Geldwirtschaft, die Herstellung der vollständigen Demo-
kratie — „alle Herrschaft der Reflexion im Staatswesen
drängt über kurz oder lang auf Gleichheit der Bürger
im weitesten Umfang**^ — schliesslich das Ideal einer
Bildungsaristokratie und eines Beamtenstaats, in dem
das Leben von dem Wissen, der rationalen Gestaltung,
' Pöhlmann, Geschichte des antiken Kommunismus. So-
krates und sein Volk S. 25. Ed. Meyer, Gesch. d. A. IV 111.
» Burckhardt I 217.
_ 20 —
seine Ordnung und Sicherheit gewinnt, wie es Sokrates
verkündete und seine Schüler nach den verschiedenen
Möglichkeiten theoretisch darzustellen suchten. Damit
beginnt dann zugleich das Sich-Zurückziehen der Philo-
sophen aus der öffentlichen Mitarbeit an den Aufgaben
des Staats. An Stelle nationalen Bewusstseins, wie es
bei Plato und Aristoteles noch vollständig vorhanden
ist, entsteht der Kosmopolitismus, und die aufgeklärte
Monarchie nimmt die Zügel in die Hand.
Auf die Sitte und die sittUche instinktive Gefühls-
weise wirkt die Eeflexion seit den Tagen des Hesiod.
Das Lebensziel ändert sich, die Gewalt der Affekte wird
gebrochen. Das Ideal der Sophrosyne und des Mitt-
leren zwischen zwei Extremen, des [tTjS^v ä^av, wie es die
Erfahrung immer wieder lehrt, wird die Grundlage der
Ethik. Die Erkenntnis der Abhängigkeit der Sitte von
den Lebensverhältnissen entsteht und wirkt bestimmend
an Stelle des triebhaften und gewohnheitsmässigen Han-
delns, das Bewusstsein des ütilitarischen wächst steigend K
Schliesslich setzt die ethische Theorie ein. Neben die
„wirkliche Ethik, welche die besseren tatsächlichen Züge
des Volkslebens enthält, treten die Postulate der Philo-
sophen", die Kritik der Sitte zur Befreiung des Indivi-
duums aus ihrer Fessel, und die rationale Begründung
der sittlichen Gebote. Auf Grund von abstrakten Be-
griffen, deren wirksamster die „Natur" gegenüber der
Satzung und Willkür ist, wird das Leben konstruiert,
wo denn die verschiedenen Möglichkeiten gleichwertig
* Vgl. auch Ed. Meyer a. a. 0. IV 112. Am deutlichsten
ist hier die . Schrift über den Staat der Athener und nur mit
Macchiavellis Principe zu vergleichen.
— 21 —
auftreten« Auch hier bedeutet Sokrates dann eine neue
Stufe. Zu welcher Verirrung aber des ethischen Ge-
fühls die gedankenmässige Zersetzung des Lebens, die
„Meinungen und Systeme^, in Griechenland führten, zumal
hier eine so allgemeine religiöse Vergeltungslehre wie bei
uns, die in die rationale üeberlegung mit eingegangen
wäre, nicht vorhanden war, sieht man bei Thukydides H 53
und m 82, 83 oder auch bei Aristophanes in den Wolken.
Wie „die immer mächtiger wachsende Kritik, die
alle bestehenden Verhältnisse auf ihre Berechtigung
prüfte, auch die Stellung der Frau in ihren Berdch zog**,
lese man bei Ed. Meyer, Gesch. d. A. IV 102, und
Ivo Bruns, Frauenemanzipation in Athen. Auch hier
erscheint der abstrakte Begriff des Menschen und seiner
abstrakten apetT] zuerst in dem Denken des Sokrates
(Xen. Symp. und Arist. Polit. I 13, 1216 a 21).
Schliesslich die Wissenschaft selber, der eigent-
liche Träger der Aufklärung. Die allmähliche Loslösung
der Philosophie aus religiös-ethischem Erleben der Welt
und ihres Sinnes, die aUmähUche Umsetzung des Mythos
in Metaphysik hat Dilthey in seiner Einleitung nach-
gewiesen. ParaDel geht ihr die Kritik der mythischen
Eeligiosität in Xenophanes, Heraklit, Aeschylos, So-
phokles und Euripides. Diese Kämpfe waren der Ver-
such, eine neue Substanz der Religiosität zu erringen,
' wie es in Indien Buddha, bei den Juden den Propheten
und bei uns der Eeformation gelang. Und aus der
Orestie und der Antigene redet die lebendige Gewalt
des reinen hohen Glaubens K Aber mit der Erkenntnis-
* Ed. Meyer a. a. 0. IV 110, 117 betont zu selir die blosse
Vermenschlichung. Das Endergebnis war es allerdings.
-^ 22 —
tkeorie des Protagoras setzt das Postulat eines rationalen
Wissens von den Göttern ein, Anaxagoras begründet
den ^»Deismus^ als wissenschaftliche Hypothese; das
neue wissenschaftliche Weltbild erkennt man am besten
aus den Wolken. In der Schule des Sokrates vollendet
sich die grosse religiöse Bewegung in einer Q-ottes-
erkenntnis aus der Zweckmässigkeit der Welt, die ihren
Sinn in einem moralischen Ziel hat, und die verschiedenen
Formen der Metaphysik suchen auf der Grundlage dieser
teleologischen Weltauffassung das religiöse Ideal nach
den verschiedenen Möglichkeiten begrifflich darzustellen.
Damit ist die Freiheit des Subjekts gewonnen, zugleich
aber das religiöse Bewusstsein, das aus der Totalität des
Daseins sich erhebt, abstrakten Beziehungen und ihren
Gegensätzlichkeiten überantwortet, deren Ergebnis die
Skepsis ist. Und dieser Prozess vollzog sich auf dem
Grunde einer unaufhörlich wachsenden Erfahrungserkennt-
nis, wie sie aus dem praktischen Leben entstand, in
Astronomie und Mathematik, Medizin, geographischer
und historischer Kunde ^ und Kritik sich entwickelte.
So ging langsam die Umwandlung des unbewussten,
unwillkürlichen Lebens in bewusste Ueberlegung, rational
gewollte Tätigkeit vor sich, üeberall wurden die ewigen
Tatsachen zu Problemen, die uralten Antworten zu
Fragen^. Ideale tauchen auf, an denen jede Gegenwart
gemessen wird, Kritik an allen Enden. Mit dem 5. Jahr-
hundert erreicht das Verlangen nach Zweckbewusstsein,
nach verständiger Gewalt über dieses Dasein seinen ersten
Höhepunkt. Auf allen Gebieten wird kodifiziert Das
» Vgl. Ed. Meyer a. a. 0. IV 108 f.
« Vgl. öomperz I 810f. Pöhlmann a. a. 0. S. 6—37.
— 23 —
Streben Bach Eeformation ist allerwärts. Jede Praxis
soll vemunftgemässen Einsichten untergeordnet werden,
Ueberall sucht man nach den festen Normen. Eine
breite Literatur von Lehrbüchern entsteht, Sprachkritik
als das charakteristische Merkmal der Aufklärung. Aa
jeder Stelle Absicht und gewollte Erfindung, anstatt
naiven Schaffens. ^Wie ein Symbol", sagt Gomperz
sehr schön S erscheinen einem die Städteanlagen des
Hippodamus von Milet in jenen Tagen^ mit ihren recht*
winkligen Strassen.
In dieser Entwicklung bedeutet Sokrates die Voll-
endung. In ihm bemächtigt sich die Philosophie dieser
Aufklärung, gemäss ihrer Funktion, den eigensten Willen
einer Zeit durchsichtig zu machen. Und weil er zum
erstenmal fest und klar den Glauben aussprach, dass
die Sicherheit und der Wert des Lebens abhängig ist
von der erkannten Wahrheit (w? i^d) oo (lövov vöv aXXa
xai ael toioutoc;, olog tcov Ijtcov (tigSevl JlXXij) ireidsa&at i] tcp
Xö7(p, 8^ av [tot XoYtCo{i.^v(|) ßsKttatoc; f aivTjtai ^\ ein Glauben,
in dem er sein Leben führte und für den er starb, ist
er der Nachwelt immer die Verkörperung des philoso-
phischen Eros gewesen. Er geht darauf aus, definitiv
jede unbewusste Tätigkeit, Meinung, Schätzung zu ver-
ständigem Bewusstsein zu erheben, absolute Helle hier
herzustellen, in der nichts vor der Kritik und der Unter-
suchung verborgen bleibt. Er sucht eine Lebenstechnik,
die völlige Durchführung der Kationalität im persönlichen
wie im politischen Dasein. Alles soll klar und deut-
* üeber rationalen Städtebau vgl. Burckhardt, Gr. Kultur-
gesch. IV 75.
8 Kriton 46 B.
— 24 —
lieh sein. In diesem Sinne trat er den Handwerkern,
Dichtem und Politikern seiner Stadt entgegen, wie es
die Apologie und jeder Satz der sokratischen Literatur
bezeugt. So gewaltig die Gährung der Zeit in ihnen
allen arbeitet, ist er ihnen doch allen im Bewusstsein
der Notwendigkeit einer restlosen Aufklärung überlegen.
So kommt er zu seiner merkwürdigen Methode des
rpOTp^Tcsiv^ und icpoSiSd(3Xsiv ^, mit der er zunächst die
selbstzufriedene Gewissheit des natürlichen Menschen
zerstörte. Als Wahnsinnige erschienen sie ihm, wie sie
alle trotz ihres gescheiten Gehabens und alleswissenden
imd beredenden Dünkels wie blind umherlaufen, und es
entsteht ihm die wundervolle Ironie als der Ausdruck
seines neuen Lebensgefühls. Auf dieser radikalen Durch-
setzung des Verstandes beruht nicht zum geringsten seine
ungeheure Macht über die Jünglinge, einen Alkibiades,
Kritias ® und Euthydem, die ihn in dieser Zeit der Dis-
putation, in der wahr erscheint, was im Wettkampf siegt,
stets überlegen sahen. Der Einfluss eines philosophischen
Lehrers beruht vor allem auf den Machtmitteln, die er
seinen Jüngern für das Leben mitzugeben vermag. Dass
sie diese stets in seinem Sinne verwenden, ist unwahr-
scheinlich, auch die sokratischen Schüler müssen unaus-
stehlich gewesen sein mit ihrer Sucht, alles als proble-
matisch zu erweisen und mit den gefährlichen Waffen
der Dialektik alle Werte zu verdrehen, die den meisten
doch noch heilig waren, wie Aristophanes einen von
ihnen, wenn auch gehässig karikiert, in seinem Phei-
dippides vonührt, und Alkibiades so naseweis bei Xeno-
* Mem. IV 2. « Frösche 476. » Mem. I 2 16.
— 26 —
phon dem grossen Perikles gegenüber erscheint; selbst in
der Apologie ist das sichtbar.
. Die höchste Steigerung aber empfängt die Zeit in
dem positiven Ideal, das dem Sokrates folgerichtig
aus der ganzen Bewegung hervorging. Wohin er sah,
bemerkte er das Gelingen der Tätigkeit abhängig von
der deutlichen Einsicht in die Aufgabe und die not-
wendigen Mittel. Das Wissen ist so allein der Garant
des Könnens, auf ihm ruht die Festigkeit, die Sicherheit
und das Glück des Lebens, der Wert und die Macht
des Individuums. Der Wissende ist Herrscher und König
in dem, was er weiss. Er regiert, wie im Schiff der
Steuermann und der Arzt über den Kranken. Unab-
hängig zunächst von jedem Ethos, erscheint ihm das
die Notwendigkeit, der sich jedes Dasein unterwerfen
muss. Von dem Wissen aus muss die Ordnung des
Staates erfolgen, wie jedes Handwerk von der Einsicht
seine Vollkommenheit erhält. Berufswissen ist die For-
derung, die von hier aus an die Erzieher der Zeit ge-
richtet wird; die Bedingung des Sachverständnisses die
unwiderlegliche Wahrheit, mit der er jedem Jüngling,
der ihm begegnete, die Augen öffnet.
Ist aber Äpein] die Eigenschaft des Menschen, die
ihn beföhigt, seine naturgegebene Aufgabe zu erfüllen,
seinen Lebenszweck zu erreichen, und ist die Aufklärung
die Bedingung jedes erfolgreichen Strebens, so liegt die
apsTT] des Mannes eben in ihr: „Tugend ist Wissen**, und
das grösste Uebel des Menschen ist „der Dünkel zu
wissen, was man nicht weiss".
26
in.
Pädagogik und Rhetorik.
Diejenige Technik des Lebens, in der die Energie
der Aufklärung naturgemäss am stärksten auf bewusste
Methode gerichtet sein muss, ist die Pädagogik. In der
Erziehung und Höherbildung der Jugend offenbart sich
ja ihre ganze Kraft am deutlichsten, hier muss sich
immer ihr Interesse konzentrieren. Die Schätzung der
Kegel und der Bewusstheit hängt eng zusammen mit
dem Glauben, alles erlernen zu können. Können und
Bildung, Wissen und Gelehrsamkeit erscheinen als Syno-
nyma. Die neue Lebendigkeit der Zeit hatte sich da-
mals ihre Organe in den Sophisten geschaffen, die sich
anheischig machen, dem jungen Griechen zu der vollen-
deten Tüchtigkeit zu verhelfen, die dem neuen Ideal
entspricht. Das Ziel des modernen Menschen ist nicht
mehr der Sieg im musisch-gymnastischen Agon, den
schon Xenophanes verhöhnt, sondern die Fähigkeit des
Auftretens auf dem politischen Kampfplatz, geistige Ge-
wandtheit und Gewalt So verschieden die Interessen
der Sophisten sind, was sie schliesslich alle versprechen
zu lehren, ist die intellektuelle Geschicklichkeit, die den
Hauptbestandteil der neuen apexn] ausmacht und deren
Ausdruck die Bedefahigkeit ist. Ueber alles reden zu
können, immer neues und in allen Formen reden zu
können, ist der Triumph dieser Männer und die Sehnsucht
der Jugend, die sich begeistert um sie versammelt. Die
künstlerisch-spielerische Freude der Griechen am Wett-
kampf, die Buhmsucht des Individuums findet hier den
— 27 —
neuen Schauplatz, da der alte Agen nicht mehr be-
friedigt. Die Gymnasien veröden, weil die Jünglinge
sich um die disputierenden Rhetoren drängen, das Ge-
schwätz dringt in jede Palästra. Und immer ist der
letzte Zweck, der Stärkere zu sein. Wie tief dies Be-
dürfnis im Griechen lag, sieht man schon aus den
Worten, mit denen Parmenides seine Darstellung der
Scheinwelt einleitet: a>c ob (injicots tic Qs ßpoTö^v Y^coftig
irapaXdooig^ Der reale Ernst dieses gefahrlichen neuen
Könnens lag aber darin, dass es in dieser Zeit der voll-
kommensten Oefifentlichkeit die Lebensstellung gab. „Bil-
dung ist Macht", und ihre Gewalt besteht im üeberreden.
Sokrates ist den Lehren dieser neuen Technik ent-
gegengetreten, und oft genug hat man hierin eine ethische
Opposition gefunden. Grob moralisch kann sie nicht
gewesen sein. Man hat seit Grote die sittliche Höhe
der Sophisten von allen Seiten beweisen wollen, und
für die älteren von ihnen gilt das ja auch ganz ge^viss,
wenigstens war das altbürgerliche Ethos noch in ihnen
wirksam, obwohl ja die Behandlung moralischer Pro-
bleme und namentlich die Entdeckung der Relativität der
Werte, wie sie in der Schule des Heraklit vorhanden
war, bei unendlich vielen eine Lockerung der sittlichen
Gebundenheit zur Folge gehabt haben wird. Ganz halt-
los kann die Komödie des Aristophanes nicht gewesen
sein, die, 424 aufgeführt, eine längere Entwicklung vor-
aussetzt. Aber gerade sie zeigt auch, dass es Sokrates
mit seinen Schülern bisweilen ähnlich gegangen sein
wird, und dass sein Kampf mit den Sophisten sowie
* Di eis, Ueber die ältesten Philosophenschulen. In Zellers
Abhandlungen S. 249 f.
— 28 —
sein ganzes Auftreten unmöglich ein so äusserlich ethisches
gewesen ist, wie es in der Apologie erscheint. Wie
hätte Aristopbanes die Gegner zusammenwerfen können,
da es doch keinen Gegensatz gibt, der leidenschaftlicher
und offenkundiger wäre als der eines Moralpredigers zur
Sittenlosigkeit. Aber die Darstellungen ihrer Dispute,
die wir haben, wissen davon auch nichts. Ein ethischer
Gegensatz erzeugt eine andere künstlerische Form als
diesen mimischen Dialog, diese philosophische Komödie;
der Kontrast dieser Szenen, wenigstens in den früheren
Dialogen, ist immer der intellektuelle, den die königliche
Ironie geniesst. Und schliesslich: von allen Sätzen des
Sokrates, die wir kennen, ist der sichersten einer der von
der ünfreiwilligkeit des Bösen, eine üeberzeugung, die
seiner Polemik stets die milde Schönheit der Toleranz
gab, deren erster Verkündiger er gewesen ist — auch
hier die Vollendung der Aufklärung mit ihrem neuen
ethischen Gedanken, der Duldsamkeit des Verstehens
— „sie wissen nicht, was sie tun** — , die dann gipfelt in
dem historischen Begreifen, vor dem auch die Toleranz
des selbstsicheren, abstrakten Verstandes noch als eine
Vergewaltigung des Lebens erscheint.
Auch diesen Männern gegenüber hob Sokrates die
Fackel des Bewusstseins um eine Faust höher und
stellte den ganzen sophistischen Beruf selber in Frage,
indem er seinen Vertretern das tiefste Problem der
Aufklärung vorlegte: Gibt es eine Technik der Erziehung
und welches sind ihre Bedingungen? Ist die Tugend
lehrbar? Wie weit ist das Können übermittelbar?
Die Frage war nicht so absolut neu; von den Dich-
tern Pindar und Theognis schon wird sie aufgeworfen.
— 29 —
Das |i§YioToy i^ fhoi^ des Euripides war doch schliess-
lich die Ueberzeugung jener genialen Zeit. Die neue
Bildung musste sie aber von neuem beantworten. Und
hier zeigt Sokrates, dass die Lebensbedingung und Vor-
aussetzung des neuen Berufs das Wissen ist. Denn nur
ein Wissen ist lehrbar. In der bei allen Variationen
grossartigen Monotonie seiner Gespräche kehrt dieser
Satz von der Tugend, die nur lehrbar, wenn sie ein
Wissen ist, immer wieder. Jedes Handwerk hat sein
Wissen, also seinen Meister, auch die Gymnastik, die
Kunst, die Medizin. Jedes Pferd findet seinen sach-
verständigen Bereiter, nur für das, was dem Menschen
am wichtigsten ist, gibt es keinen Lehrer, denn es gibt
davon kein Wissen. Der Zusammenhang des Lebens
fordert die Möglichkeit, das Können zu übermitteln, und
doch lehrt die seltsame Erscheinung der geringen Söhne
berühmter Väter die ZuföUigkeit jeder Grösse. Mit
griechischer Grausamkeit wird das an den Söhnen des
Perikles exemplifiziert. „Es gibt noch kein Wissen der apetT]
und der 6&Sai|j.ovia und so halte ich die Tugend nicht für
lehrbar**, das ist der immer wiederkehrende Schluss K
^ Vgl. Apologie 20 und vor allem den Protagoras, wo der
Zusammenhang von Wissen und Lehrbarkeit Voraussetzung und
Ziel der Untersuchung ist. Ebenso Mem. IV 6 i : Sokrates glaubte
nämlich, dass „wer einen richtigen Begriff von jedem Dinge habe, dies
auch andern erklären könne, wenn aber der Begriff fehle, da sei es
kein Wunder, wenn einer sich und andere täusche**. Femer 1 1 7 9,
2 19 für die Synonymität von wissbar und lehrbar. Dazu kommt
eine Stelle in der endemischen Ethik, bei der an die sokratische
Philosophie gedacht ist: 1214a 18: irpüjtov hh oxsictsov ev xtvt xh eh
C'vjv xal TCCüC xf/jTOV, itoxepov <pü08t . . . tj 8ta [Jia0-r)08(u(, o»? oüoir]?
iTC'.offjfJLir]? T'.vö? T-^^ e&SaifJLOvia«;. Vgl. auch Met. 981b 7: SXw? xs
aY][i8lov xou elSoxo^ x6 SuvaoO'ac SiSaaxetv laxlv xal hiä xoöxo x'v]v
— 30 —
So wird das Wissen auch die Bedingung seines eige-
nen LebensberufeSy der ihn mit ursprünglicher Gewalt auf
die Bildung junger Menschen wies. Denn mögen auch
die Darstellungen eines Plato und Xenophon-Antisthenes
von der ethisch*pädagogischen Art dieser Männer ihre
Färbung haben, sie selber war doch nur der Wider-
schein jener ganz einzigen Aeusserung des Vermögens
der Seelenleitung, das ihnen in ihrem Lehrer so ge-
heimnisvoll unter der tiefsinnig spielenden Maske der
liebe entgegengetreten war^.
Noch klarer erscheint der Gegensatz zwischen ihm
und den Sophisten aber, wenn man die Methode ihrer
Erziehung vergleicht. Euer wird zugleich der Grund
sichtbar, von dem die Form des sokratischen Wissens
bedingt ist.
Die Seele der neuen Bildung war die Shetorik, ihr
Ziel und ihr Mittel das irei^siv, und wie in der foren-
sischen, politischen und epideiktischen Beredsamkeit
spitzt sich auch in der Pädagogik die Methodenfrage
dahin zu: Welches sind die Mittel der Ueberzeugung?
Der Phädrus zeigt, wie weit die Sophisten damals schon
in die Bedingungen ihrer Technik eingedrungen waren.
Wir überblicken dort eine für die Zeit ungeheuer grosse
Literatur. So war ihnen die Grammatik erwachsen, die
ol ^h oh Suvavtai Sc$aoxeiv. Das Problem der Lehrbarkeit in ihrem
Verhältnis zum Wissen mit allen Fragen, die sich daran anschliessen,
wird die treibende Energie der Entwicklang der sokratischen
Schulen. Vgl. vor allem den Menon und Euthydem.
^ Auch bei Aeschines tritt dieses Ipäv als die symbolische
Weise, in der Sokrates mit seinen Schülern umging, auf. Ebenso
bei Xenophon Mem. IV I 2.
— 31 —
Beobachtung der Sprachformen, der Wortbedeutung, so
schufen sie die Affektenlehre — die also auch hier wie
in der Renaissance aus dem Machtbedürfnis entsteht
und erst später ethischen Zwecken dient. Und nun
geht Sokrates hinter alle diese Dinge zurück auf die
allgemein - gültigen Voraussetzungen, die Axiome, die
jedem sicher und in jedem wirksam sind, und entwickelt
seine Methode der Frage, die jedes Resultat als das
zwingende, logische Ergebnis des eigenen Denkens er-
weist. Auch hier dient die td^^vYj des Handwerks und
der Medizin als Vorbild. Das Wissen ist der uner-
schütterliche Grund der Ueberzeugung, auf ihm ruht
auch die eigentliche Gewalt der Bede. Man zwingt
seinen Gegner zum Zeugen gegen dessen eigene Be-
hauptung. Die Besinnung auf die Normen des Denkens,
die neue Logik und Wissenslehre geschieht aber in der
lebendigen Bede. Mem. IV 6 15: „Durch diese Zurück-
führung der Rede auf die Grundfragen machte er auch
den Gegnern die Wahrheit einleuchtend. Wenn er aber
jetzt etwas auszuführen suchte, so ging er von den am
meisten anerkannten Wahrheiten aus, indem er glaubte,
dass dies die rechte Sicherheit der Rede sei. Daher
weiss ich auch keinen, der es so verstanden hätte, die
Zustimmung seiner Zuhörer zu erringen wie er, wenn
er sprach. Drum habe auch Homer, sagte er, dem
Odysseus das Lob eines sicheren Redners zuerteilt, weil
er es verstanden habe, seine Rede auf allgemein ange-
nommene Wahrheiten zu stützen.** So wird der Aus-
gangspunkt des Beweises genommen. Seine Ent-
wicklung aber erscheint am deutlichsten ausgesprochen
im Theätet 196 (Phädon 100). Jeder sokratische Dialog
— 32 -.
beweist, dass diese Worte auch für den Meister gelten.
„Unter Denken verstehe ich eine Rede, welche die Seele
bei sich selbst durchgeht über dasjenige, was sie er-
forschen will. Freilich nur als ein Nichtwissender kann
ich es dir beschreiben. Denn so schwebt sie mir vor,
dass, solange sie denkt, sie nichts anderes tut, als sich
unterreden, indem sie sich selbst antwortet, bejaht und
verneint. Wenn sie aber langsamer oder auch schneller
zufahrend nun etwas feststellt und auf derselben Be-
hauptung beharrt und nicht mehr zweifelt, dies nennen
wir dann ihr Urteil \ Darum sage ich, das Urteilen ist
ein Reden und das Urteil ist eine gesprochene Rede.**
Hier ist das Denken schon hineingenommen in die
Schweigsamkeit des Inneren, ursprünglich geschieht seine
Entwicklung aber im wirklichen Dialog und der logische
Widerspruch erscheint als realer, die Evidenz als die
Anerkennung der lebendigen Allgemeinheit; der ganze
Prozess des Denkens geht vor sich auf einem solchen
Hintergrund tatsächlichen Auseinandersetzens (8iaX§-
Auch in der modernen Geschichte^ hat es eine Zeit
der Disputation gegeben, in der die Wahrheit einer Lehre
abhängig war von ihrem Sieg in der Diskussion. Dieser
galt als das entscheidende Merkmal des Wissens. Und
auch hier bildete sich aus dem Streit die Ueberzeugung
von der Gültigkeit der allgemeinsten Axiome heraus. Aber
von wieviel grösserer Bedeutung war die Rede in Griechen-
land, „Wer Geschichte damals geistig konzipierte, stellte
sie sich in Aktion und Rede dar" (Bruns). Man denke,
* Vgl. Natorp, PL Ideenlehre S. 110.
2 Vgl. Locke IV 7.
— 33 —
wie das Drama von ihr bedingt ist. Wie sie fortgesetzt
die Menschen beschäftigte, sieht man aus den platonischen
Dialogen, wo sie so oft scherzhaft als das moderne Faust-
recht erscheint.
So entsteht das Ideal einer neuen Rhetorik, und der
Dialog des Sokrates ist damals von allen als ihre Form
aufgefasst worden. Die Begriffsbestimmung, die Para-
bolien der alten Rhetorik bekommen nun alle eine lo-
gische Bedeutung. Die Werke des jungen Plato feiern
den Triumph der neuen Beredsamkeit, die aller Schein-
mittel entbehren kann, weil sie in der Wahrheit gegründet
ist. Der Phädrus ist das Programm der neuen Schule,
die Rhetorik des Aristoteles ihre systematische Voll-
endung. Auch Isokrates, der unter dem Einfluss des
Sokrates gestanden hatte, definierte seine Kunst nicht
mehr als wsi^oöc 8T)(jLtot)p7ta, sondern itsi^oög kmaxri^yi^.
Für die Philosophen blieb von jetzt ab: jiövov töv ooyöv
pYjTopixöv. Die Bedingung der neuen Beweisführung ist
aber wieder das Wissen von dem widerspruchslosen Zu-
sammenhang der Begriffe, in dem die überzeugende Kraft
jedes einzelnen Satzes ruht.
IV.
Der neue Erfahrungsstandpunkt.
Die grossen Philosophen um die Wende des 6. Jahr-
hunderts, Anaximander, Pythagoras, Heraklit und Em-
pedokles hatten alle in irgend einer Weise das sittliche
Handeln des Menschen bestimmen wollen, indem sie die
* Nach SextEmpir. adv. rhet. 62. Vgl. Sauppe, Or. Att.n224.
Kohl, Sokrates und die Ethik. 3
— 84 —
Nonnen des ethischen Lebens aus der Kenntnis des
Ganzen der Welt und ihrer Gesetzmässigkeit ableiteten,
sowie sie es auch mit dem körperlichen Leben taten und
die Medizin auf die Naturphilosophie gründeten ^ Ein
Versuch, der damals bei aller seiner spekulativen Tiefe
vollständig misslingen musste. Jede metaphysische Hy-
pothese, in der man den Schlüssel für die Erklärung
der Erscheinungen zu finden glaubte, sah mit gleichem
Eechte gerade entgegengesetzte neben sich entstehen
— ihr ewiges Schicksal ~ und das Leben verwirrte sich,
anstatt sich zu klären. Am stärksten empfanden dies
natürlich die Praktiker, die den Erscheinungen fortgesetzt
tätig gegenüberstanden. Und während die grossen Schulen
sich gegenseitig zerrieben und innerlich auflösten in der
Dialektik ihrer Begriflfe, entstand vor allem in der Medizin
— wenn auch beeinflusst von der Kritik der Spekulation —
eine ganz neue Bichtung, die im bewussten Gegensatz
zu der Philosophie des Kosmos sich dem Leben direkt
gegenüber zu stellen suchte und durch eine neue Me-
thode ein Wissen gewann, das, aus der Praxis heraus-
gebildet, fähig war, sofort wieder auf diese zurück zu
vnrken. Wie im 17. Jahrhundert wird auch hier nicht
begonnen mit erkenntnis-theoretischen Untersuchungen,
in solchen Zeiten der unentwickelten Methode erarbeitet
sich das Denken seinen Weg immer am StoflF.
Ein Programm dieses neuen Erfahrungsstandpunktes
ist die in ihrer ruhigen und nüchternen Klarheit so merk-
^ Es ist eine Lücke in Joels Rektoratsprogramm: „Der Ur-
sprung der Naturphilosophie^, dass die auf die Mystik gegründete
Medizin nicht berücksichtigt ist, zumal die historische Verbindung
der Renaissance mit dieser Literatur die deutlichste ist.
— 36 —
iFÜrdige Schrift Tcspl ap^aliijc lijtptxiji;. Gomperz * hat schon
auf die Bederntung dieser Schrift hingewiesen. Mir scheint
sie noch eine Beziehung von der grössten Wichtigkeit
zu haben, nämlich zu Sokrates. Ich gebe zunächst eine
kurze üebersicht ihres Inhalts.
Sie geht aus von einer Kritik der naturphilosophischen
Medizin, die für Krankheit und Tod stets nur eine oder
zwei Ursachen bereit habe, das Warme oder Kalte,
Feuchte oder Trockene. Einige Aerzte und Sophisten
halten eine Heilkunst unter der Bedingung für möglich,
dass man weiss, was der Mensch ist, seine kosmische
Entstehung und Zusammensetzung. Auch hier liegt die
Naturphilosophie zu Grunde, wie sie Empedokles und
andere aufgestellt haben. „Ich aber glaube, dass alles
derartige, was ein Sophist oder Arzt über die Natur ge-
sprochen oder auch geschrieben hat, weniger in den Be-
reich der Heilkunst gehört als in den der Malkunst.**
Das sind alles Hypothesen, die zu verifizieren dem Men-
schen jeder Massstab fehlt (oo ^ap Uav. Ttpöc Su ^^p*^
ÄvsvsYxavta elS^vai to oay£(;). Weder ihr Entdecker noch
seine Zuhörer können erfahren, ob sie wahr sind oder nicht.
Uebrigens haben diese Aerzte auch keine andern Mittel als
die alte Medizin. — Hier dringt die junge Dialektik in die
Beweisführung des Arztes. — Unter dem Begriff des War-
men können die verschiedensten Eigenschaften erscheinen.
Ein „an sich warmes** etc. haben jene Leute nicht erfunden.
Wenn sie einer fragt, dem sie befohlen haben, dem Kranken
etwas Warmes zu geben, was das denn sei, so müssen sie
entweder faseln oder zu einem der alten Mittel greifen.
* Griechische Denker S. 238. Vgl. auch E d. M ey er , Geschichte
des Altertums IV 210.
— 36 —
Die wahre wissenschaftliche Medizin, die t^xv?], ist
längst gefunden. Sie braucht keine „Hypothesen", die
nur nötig sind für den^ der „über das Unsichtbare und
Unzugängliche, über das, was am Himmel und unter der
Erde vorgeht", reden will. Jeder macht einen Unter-
schied zwischen guten und schlechten Aerzten, was un-
möglich wäre, wenn alle gleich iicsipot xal avs;ria'n]{JLOvsc
wären und die zbyjl regierte. Die Heilkunst ist gestellt
wie jede von den andern Techniken. Ihre Methode
(oLpXh ^*^ ^^^^) ^^^^ ^^^^ auszugehen von dem, was allen
bekannt ist, was jeder Laie an seinem Leibe erfährt.
Jede Erkenntnis der Technik muss dem Laien mitgeteilt
werden, oo ^ap wepl SXXoov tiväv oSte C^J^etv oSre X^eiv
TcpooTjxet ^ izspl zm 9ca^{idt(iDv &v a^tol ooiot voa^ooai. Als
Laie hat der gewöhnliche Mensch zwar keine Einsicht
in das Wesen, Entstehen und den Ablauf seiner Krank-
heit, was ihm aber von einem andern auseinander-
gesetzt wird, begreift er leicht, da er nur hört, was er
sich erinnert selbst durchgemacht zu haben, ooS^v ^äp
Srepov ri ava|it[ivii]ax8Tat ixaaTOc axoooov im aotcp ai>[ißatvdvTa>v.
Wenn der Arzt aber dieser Kenntnis des Laien wider-
spricht und seine Zuhörer nicht so behandelt (Sia&Tjaei),
so erreicht er auch die Wahrheit nicht — xal 8ta toöta
oov taöTa oüSev Set u:ro&datoc. Wer da willkürlich behaup-
tet, eigene Wege zu gehen, täuscht sich und andere.
Notwendigkeit und Bedürfnis des Lebens haben die
Heilkunst hervorgebracht, indem sie die Kultur der Er-
nährung entwickelten. Auf diesen Erfahrungen muss die
Medizin weiter bauen, sie unterscheidet sich aber als
Technik von der gewöhnlichen Erfahrung, weü sie grund-
sätzlich auf die Einsicht in die Ursache ausgeht. Ihre
— 37 —
Erkenntnisse stammen nicht vom Zufall, sondern sind
methodisch gefunden durch vernünftige üeberlegung (Xotw-
jt(j)). Aber sie geht aus vom einzelnen, von dem Essen
und Trinken der Menschen und seiner sonstigen Lebens-
weise und untersucht, was immer dem einen aus dem
andern folgt (ooftßTjastat).
Keine allgemeinen Bestimmungen über die kosmische
Natur des Menschen, aber auch nicht blosse Empirie,
2. B. „das macht Schmerzen", sondern ttva ts Ttövov %al
&d Tt xal Ttvt Tö>v ev t<p av^pcoTrc^) svövtodv avsÄtnjSetov ^
Also Analyse des Falls und kausale Erklärung, zabza
eX TIC elSsiTj oox $v wao/ot. Auf diesem Wege wird all-
mählich auch die Naturerkenntnis überhaupt gelingen.
Jene Naturphilosophen sagen einfach etwa: er hat sich
erkältet, gebt ihm etwas Warmes. Nun gut, da ist einer
mit schwachem Magen, der möge ungemahlenen Weizen
essen usw. Diese Diät muss natürlich die schlimmsten
Folgen haben. Was wird ihm Hilfe schaflFen, das Warme
oder das Kalte, das Trockene oder Feuchte? Nach eurer
Behauptung muss es eins von ihnen sein. So geht der
Spass noch eine Weile weiter. Man hört hier das helle
Lachen der klaren Ueberlegenheit durch diese Zeilen.
Und wieder, wenn er selbst sein Verfahren schildert und
den Käse und seine Wirkung auf den Magen untersucht
haben will, so hat schon Gomperz auf den bewusst haus-
backenen prosaischen Ton aufmerksam gemacht, der hier
dem Prunk der Spekulation entgegengehalten wird. Er
kennt viele Aerzte, die wie die Laien aus einem Komplex
von Erscheinungen irgend eine beliebige (v^xü) ^^^ ^^
* Vgl. das xax& xi (Hippias d. Kl. 364 B) und das ilg xi
(Ladies 192 E) von Sokrates, dazu Mem. IV 6 18.
— 38 —
wirksame herausgreifen, ohne sich den wahren Kausal-
zusammenhang klar zu machen. Die Aufgabe aber ist,
den Körper des Menschen in seinen Formen {(y/in^xa)
durchsichtig zu machen, die Kräfte (8ovd{teti;) der Säfte,
die in ihm sind und die in ihn hineinkommen, zu erkennen,
a Set ;ravta slS^ai ^ Siaf epet o:ra>c ta altta Ivcdotcov slSd>c
öp^ä»c f oXaooTfjtat. Gegenüber dem Alleswissen der Spe-
kulation lebt er in dem Bewusstsein der Grenze seines
Könnens. Zum vollständigen Wissen gehört die exakte
Massbestimmung der Quantitäten, und hier kann der
Arzt keine Genauigkeit erreichen, da er mit Zahl und
Gewicht nicht heran kann und sich an die Körper-
empfindung halten muss. So wird absolute Sicherheit
selten gefunden. Die meisten Aerzte gleichen schlechten
Steuermännern. Bei stillem Meer fehlen sie ungestraft,
sobald der Sturm kommt, wird jedem ihre Unwissenheit,
die das Schiff ins Verderben bringt, offenbar. Der ver-
dient schon gepriesen zu werden, der nur im Kleinen
sündigt. Es ist das Lebensgefiihl des seiner Ziele und
Mittel klar bewussten Naturforschers, wie es am schönsten
in dem berühmten Aphorismus des Hippokrates heisst:
Das Leben ist kurz,
Die Kunst ist lang.
Man sieht, dieselbe Beschränkung auf das nächst-
liegende „Was", mit Abweisung jeder metaphysischen
Spekulation und hypothetischen Erörterung im Hinblick
auf den Zwang der Bedürfnisse, wie bei Sokrates, dieselbe
Bestimmung und Begründung dieses „Was" durch die
Frage und Erforschung in der ganzen Ausdehnung der
menschlichen Erfahrung, in der jeder, nicht bloss der Phif
losoph, seine gültige Kenntnis hat, die nur systematisiert
— 39 —
und erklärt zu werden braucht, um Wissenschaft zu sein,
und deren Wahrheitsgrund immer das lebendige Bewusst-
sein ist. Derselbe Spott der Dialektik über die Ohnmacht
der metaphysischen Begriffe und der ironische Gebrauch
der Prosa. Derselbe Zusammenhang mit den Techniken
des Handwerks, denen die gesuchte neue Technik gleich
werden soll', die nicht auf dem zufälligen Treffen des
Sichtigen^ oder der naiven Erfahrung, sondern auf der
klaren Bestimmtheit der Faktoren und ihres logischen
Zusammenhangs beruht. Schliesslich bei beiden das
tiefe Gefühl der Schwierigkeit der Wahrheit und ihrer
langsamen Entwicklung, wie es die Ehrfurcht vor den
Tatsachen mit sich bringt. Nach dem Prinzip der histo-
rischen Sparsamkeit würde man gern die Relation der
beiden Standpunkte genauer fixieren können.
Sehr schwer ist die zeitliche Bestimmung. Dass die
Programmschrift von Hippokrates selbst ist, ist mir mit
Ed. Meyer sicher (IV 207). Wann sie geschrieben ist,
kann, aber nicht gesagt werden. An eine Abhängigkeit
von Sokrates ist unmöglich zu denken. Wo der Arzt
in der sokratischen Literatur auftaucht, ist er immer das
^ Dies nntersclieidet sie beide am stärksten von der ganzen
vorangegangenen und folgenden Wissenschaft. Joel spricht in
seinem Programm (S. 5) von dem „untechnischen Zug** der griechi-
sehen Naturforscher. „Stark in der typisierenden Auffassung bleiben
sie kurzsichtig für heterogene Kausalität und Funktion.** Und ähnlich
S. 24: „es fehlt der starke, praktische, technische Zug der Neu-
zeit.** Aber diese Aerzte sowohl als Sokrates orientieren sich in
ihrem Gegensatz zur Mystik eben an der Technik und so ent-
steht ihnen die Erkenntnis von Ursache und Funktion; sie erschei-
nen uns dadurch beide so modern, wie schon Plato nicht mehr.
• Für die Gegenüberstellung von t6)^yj und ziyiyri vergleiche
man Xen. Mem. I 4 4 — 8.
— 40 —
Vorbild. Hippokrates war allerdings neun Jahre jünger
als der Philosoph, doch kann er seine Streitschrift und
Programmschrift wohl mit dreissig Jahren verfasst haben,
und Sokrates erscheint erst sehr spät, kaum vor seinem
vierzigsten Lebensjahre in der OeflFentlichkeit. Das be-
weisen die Komödien. Die neue Methode, die aus dem
Skeptizismus hinausführte und das Mittel einer positiven
Lebensarbeit werden konnte, wird ihm damals erst auf-
gegangen sein.
Die Verwandtschaft und merkwürdige Uebereinstim-
mung des sokratischen Standpunktes mit dem der Aerzte
ist aber nicht bloss auf diese eine Schrift beschränkt. Ich
will nur noch einige besonders auftällige Stellen neben-
einander setzen, die mir hier auch sonst den Zusammen-
hang zu beweisen scheinen.
Laches 198 D:
{t^v eivai Tcspl 7eY0vÖT0(;, slSsvat
ZiTQ 7S70VSV, aXXif] 8s Tcspl
7t7VO|ievö>v, Sng Yi7V6tat, aX>.Y]
8s Zjcq av xdXXtata Y^voito
xai YsvTJasTat tö {injTco) Ys^ovög,
aXX' T^ aänj. otov Tcspl to 071-
6IVOV el<; affavtac toix; )(pövoo<;
o&K aXXif] tt<; Tj T^ latpwcTi],
IJita oioa, iyopt^ xal YtYVÖfisva
xal YcYOvöta %al YsvTfjoöji-sva,
OÄTQ YsvTiJostat.
Der Beginn des Progno-
stikon ^ :
TÖV ITJtpÖV 80X6I |iOt äpiOTOV
6tvat7rpövotavl7ttT7)8eöstv' Äpo-
7iYVü)0Xö>v 7ap xal TcpoX^cov
Trapa loiGi vooiooot td ts Tca-
psövta xal ta 5cpQ76YOVÖTa xal
ta [liXXovxa Soso&at
* * *
' Kühl wein, Hippokratis opera I 78 1 — 6.
— 41 —
Noch wichtiger aber ist der Anfang der Schrift des
Polybos wepl (pöoto^; ovä-pcoico'j (s. Diels, Hermes, 1893,
XXVn 430 ff.). Es war die Schultradition, die der
Schwiegersohn und Nachfolger des Hippokrates so an die
Spitze stellte, und es ist auch die sokratische Ueberzeugung
und Beweisführung, sein Gegensatz gegen die kosmische
Philosophie und Rhetorik. Jene Aerzte, die überall
das grosse Wort führen, „sagen wohl, das Universum der
Natur sei eins, aber dieses Eine und Ganze bestimmt der
eine als Luft, der andere als Feuer, dieser als Wasser, jener
als Erde; jeder führt dann für seine Lehre Zeugnisse und
Indizien an, die von gar keiner Bedeutung sind. Daraus
nämlich, dass sie alle dasselbe denken, aber nicht sagen,
geht deutlich hervor, dass sie es nicht erkennen. Jeder, der
ihren Disputationen beigewohnt hat, kann das klar sehen.
Wenn da dieselben Leute sich vor denselben Zuschauem
streiten, so bleibt nicht dreimal hintereinander derselbe
Sieger, sondern bald siegt der, bald jener, immer, wer die
geläufigste Zunge hat und sich der Masse anzupassen ver-
steht. Und es ist doch billig, dass derjenige, der eine
wahre Erkenntnis zu besitzen behauptet^ seine Rede sieg-
reich durchführt, wenn er wirklich die Wahrheit sieht.
Diese Leute aber scheinen sich mir mittelst ihrer Reden
gegenseitig zu vernichten**. Und nun vergleiche man damit
Xen. Mem. I 1 13 14. „Er wunderte sich aber, wenn es
ihnen nicht klar war, dass es menschenunmöglich sei,
dies zu erforschen, da ja auch die, welche sich auf ihre
Disputationen über solche Dinge viel zu gute tun, nicht
dieselbe Ansicht haben, sondern wie Wahnsinnige ein-
ander gegenüberstehen." — «Von denen, die sich über
die Natur des Weltalls den Kopf zerbrechen, scheine
— 42 —
den einen das Seiende nur eins zu sein, den andern un-
endlich an Zahl; den einen scheine sich alles ewig zu
bewegen, den andern nichts; diesen sei alles im Ent*
stehen und Vergehen, den andern scheint nichts zu ent-
stehen und nichts zu vergehen."
Schliesslich sei noch eine dritte Stelle erwähnt.
Mem. I 1 16 zeigt, dass das Ziel des sokratischen Er-
kennens, die Einsicht in den notwendigen Zusammen-
hang der Erscheinungen als Bedingung der Technik,
ihm auch für die Naturwissenschaft selbstverständlich
schien. Hinter diesem Satz, „ob jene Leute, welche die
göttlichen Dinge untersuchen, auch glaubten. Winde und
Kegen und Jahreszeitei;! und was sie sonst derart be-
dürften, nach ihrem Willen machen zu können, wenn
sie erkannt hätten, nach welchen Notwendigkeiten alles
geschieht", steht ein klares methodisches Bewusstsein,
das nur der Natur gegenüber erwächst und eine ganz
enge Beziehung zu dem parallelen Wort des Verfassers
„über die heilige Krankheit" hat: „denn wenn es wahr
wäre, dass ein Mensch durch Opfer und Zauberkünste den
Mond herabholen und die Sonne verschwinden machen
oder Stürme und schönes Wetter herbeiführen kann, dann
würde ich nichts von alledem für göttlich, sondern es für
etwas Menschliches halten, da in solchem Fall die Macht
des Göttlichen von menschlicher Einsicht gebeugt und ge-
knechtet würde. " Man lese daneben Empedokles 1 1 (Diels).
Ein Problem, das bisher kaum ausgesprochen worden
ist, weil man immer dem Märchen seiner autodidaktischen
Bildung glaubte S ist die Entstehung der Philosophie
^ Xen. Symp. I 5: a^ioupf^C '^^ (piXoGo^pia^.
— 43 —
des Sokrates. Mehr wie eine Hegeische Konstruktion
wird einem nie geboten. Man lese bei Zeller (II 35, 36)
die Deduzierung der Notwendigkeit der Begriffslehre, in
der die Beflexion des vorangegangenen sophistischen
Standpunktes „als Moment aufgenommen^ sei, weil sie
die Verschiedenheiten und Gegensätzlichkeiten der Wahr-
nehmung aus dem Allgemeinbegriff abzuleiten vermöge.
Einen Beweis für diese Entwicklung kann aber niemand
beibringen. Die Entstehung der Methode des Sokrates
muss historisch deutlich gemacht werden. Der ganze
Kampf des Begriffs mit der Wahrnehmung und der
Dialektik erscheint mir nachsokratisch, als die Arbeit
der Schulen, die den sokratischen Wissensstandpunkt
mit den Aporien der allgemeingültigen Urteilsbildung
und des Widerspruchs entgegengesetzter Prädikate im
Begriff, wie sie bei den Herakliteem, Eleaten und So-
phisten entwickelt worden waren, auseinandersetzten.
Bei Sokrates ist von einer Logik als Objekt der For-
schung nichts zu finden, was notwendig der Fall sein
müsste, wenn er schon in einem solchen Gegensatz ge-
standen hätte. Weder Xenophon noch Plato in seinen
Jugenddialogen weiss etwas davon. Das Problem des
XÖ70?, der Eede, die Sokrates praktisch geübt hatte,
trat erst auf, als er nicht zum Ziel gelangte, bei den
Schülern Antisthenes, den Megarikem, Aristipp, in denen
die Sophistik und Dialektik wirksam war. Erst so wird
auch diese Epoche und der Wert dieser Männer ver-
ständlich, zwischen denen sich Plato so mühsam empor-
ringt, während sie bei Zeller (11 42) sich in „die Glie-
derung nicht recht einfügen" wollen und die „Durch-
sichtigkeit des geschichtlichen Ganges zu trüben" scheinen.
— 44 —
Mögen die Sophisten^ auf Sokrates gewirkt haben
— im Laches 186 will er den Sophisten nichts schuldig
sein^ — , mag er sich in seiner Jugend erfüllt haben
mit der Dialektik, wie sie von Zeno und Heraklit her-
über kam, der Gegensatz scheint doch unüberbrückbar:
für seine positive auf die Gestaltung des Lebens ge-
richtete Energie fand er hier nirgend eine Anknüpfung,
mit seinem tiefsinnigen, sicher kritisch bewussten Sich-
beschränken auf das tt Sot'.v, ohne eine der genetischen
Hypothesen oder Naturtheorien zu benutzen, mit diesem
Sichbinden an die festen Tatsachen der Erfahrung im
Bewusstsein und blosser Beschreibung statt Konstruktion,
das ihm die Objektivität gibt gegenüber dem subjektiven
Bräsonnement der Sophisten, steht er, wenn man von den
Aerzten absieht, ganz allein. Bei Leibniz und Locke ist
für das ganz ähnliche Verfahren in der Moral die Mathe-
matik das Vorbild der Definition und Bestimmung der Ab-
hängigkeitsverhältnisse. Ist es denkbar, dass eine solche
klare, bewusste, vorsichtige Methode in der Geisteswissen-
schaft zuerst entstanden sein sollte? Diese Unmöglichkeit
ist für mich eigentlich das entscheidende Argument, warum
ich das Vorbild der Medizin für Sokrates behaupten möchte.
Von den Philosophen hat sich Demokrit sowohl als
Anaxagoras und Empedokles mit der Medizin beschäftigt.
Dass die Aerzteschriften damals selbstverständlich in eine
gute Bibliothek gehörten — und zwar in grosser Zahl —
sieht man aus den Angaben über die Bücher des Euthy-
dem, Mem. IV 2 lo. Dass der Ausgangspunkt des
* Wie es z. B. bei der Wortkritik des Prodikos wohl erwiesen,
obwohl auch hier der Spott des Plato merkwürdig undurchsichtig ist.
* Vgl. Zeller H 190.
— 46 —
Sokrates in der Technik gelegen war, geht aus der Apo-
logie und dem Beweisgang fast aller seiner Gespräche
unbedingt gewiss hervor, und hier ist die Heilkunst eines
der häufigsten Beispiele, ja meist das leitende, mit dem
er die Notwendigkeit des Wissens und die Art der Me-
thode bestimmt. Er kann dabei kaum an eine Technik
gedacht haben, die auf der Basis der von ihm ver-
spotteten Naturphilosophie ruhte. Seine Angaben über
Wesen, Methode und Ziel der Heilkunst zeigen stark
auf die diätetische Theorie, wie sie jene Schrift aufstellt
(vgl. Mem.IV 7 9, Protagoras 313, 314, StaatI 332, Alkibia-
des I 108, Kriton 47, Jon 531, Laches 192. Die Stellen
liessen sich leicht vermehren). Die Parallelität von Leib
und Seele (Kriton 47, Charmides 157, 170, Laches 185,
190 a, Gorgias 464/65, 501, 504 etc.) scheint ihm die
Uebereinstimmung der Verfahrungsweisen immer wieder
nahegelegt zu haben. Die ganze Art, wie er an die Men-
schen herantritt und sie untersucht, hat etwas von der
Diagnose. Und das eine Ziel, unsere Aufgabe zu be-
stimmen nach den Kräften, die wir haben, wird wie von
einem Arzt verlangt. Schliesslich sei noch an jenes letzte
Wort erinnert, mit dem Sokrates schied, und das so tief
in die Stimmung seiner Seele hineinleuchtet: „Wir sind
dem Asklepios einen Hahn schuldig." Er fühlte sich
erlöst von der Krankheit dieses Lebens.
Mir will scheinen, als ob eine Untersuchung der
sokratischen Schulen in ihren Beziehungen zur Medizin
reiche Früchte bringen könnte. Ich will nur noch die
wichtige Stelle im Phädrus 270 erwähnen. Hier soll
die Bedingung der echten Rhetorik angegeben werden.
Die empirische Methode, die auf Grund der bloss gewohn-
— 46 —
lieitsmässigen Erfahrung verfährt, bringt es, so steht da»
zu keiner Technik. Eine J«dne Bogviadiing der Rhe-
torik &a»haaA hm Psrikles. Er baut auf die Naturphilo-
seplde des Anaxagoras. „Alle grösseren Künste bedürfen
des spitzfindigen und hochfliegenden ([teteoipoXoYCac) Ge-
schwätzes über die Natur. Denn nur daraus kann jene
Würde und Zuversichtlichkeit im Erfolg entstehen, wie
sie Perikles sich erworben hatte.** Das kann doch, nach
dem Protagoras, dem Gorgias und der Apologie nur
spöttisch gemeint sein. Und Sokrates erklärt weiter:
„Es hat dieselbe Bewandtnis mit der Redekunst, wie mit
der Heilkunst.** In beiden muss man die Natur, des
Leibes in der einen, der Seele in der andern einteilen,
wenn man nicht tpiß-g {tövov xal k^Tttipia^ aXXa t^/vig Hei-
lung und Tugend schaffen will. Hippokrates ^ behauptet
nun, man könne die Natur des Körpers nicht begreifen
ohne die Natur des Ganzen. Dieselbe Frage entsteht
für die Seele, die wahre Vernunft aber (oXyj^c Xö^oc)
sagt, man muss von der Natur eines jeden einzelnen
Dinges ausgehen und seine Gestalt und seine Kraft,
in Wirkung und Leiden, bestimmen. Das ist die Me-
thode unserer Schrift. Und nun wird dreierlei ver-
langt: 1. Die Erkenntnis, ob die Seele eins ist oder
nach der Natur des Leibes vielartig. 2. Worauf sie
ihrer Natur nach wirkt und was und wovon sie und
was für Wirkungen erfährt. Das sind die beiden For-
derungen, die auch der Arzt aufstellte (ox>5[i.ata xot
Sovatisic). Plato fügt hinzu als drittes: man müsse alle
verschiedenen Ursachen durchgehen, was für eine Seele
* Das kann hier, bei dieser Interpretation, nicht der Verfasser
unserer Arztschrift sein. Das Problem ist ja bekannt.
— 47 —
durch was für Reden aus welcher Ursache überredet
werde. Dies ist weiter nichts als die Heraushebung der
Erkenntnis der Ursache als des Bestimmenden und
brauchte keine besondere Postulierung, wie sie denn auch
der Arzt nicht ausdrücklich daneben stellt. Dass dieser
ganze Abschnitt abhängig ist von jener Schrift, scheint
mir sicher, um das Original zu sein, ist er zu wenig
klar. Man fühlt überall das Zusammengezogene und
fremd Herübergenommene, das die klare Absicht so ver-
wirrt. Hat man doch oft genug die Stelle so misi^rer-
standen, als ob für Plato hier die kosmische Grundlage
der Seele die Bedingung für ihre Erkenntnis sei, ob-
wohl doch die nähere Erklärung dann gerade entgegen-
gesetzte Ziele weist. Schwierigkeiten bietet meine Inter-
pretation auch noch, das sehe ich wohl, der Gegen-
satz des akfid-ffi XöYOc 2U der Theorie des Hippokrates
ist nicht scharf genug herausgestellt. Vielleicht ist mit
1^ To5 5XoD yöatc, wie Charmides 156 c nur der ganze Zu-
sammenhang der Funktionen des menschlichen Körpers,
nicht das kosmische Ganze gemeint, wie ihn unser Arzt
auch erstrebt, oder es handelt sich um eine Natur-
erit^nntnis, wie sie in der Schrift „Ueber Luft, Wasser
und Lage" gezeigt wird, auf die sich ein Satz des Ver-
fassers über „die alte Medizin" wohl beziehen könnte, wo
er davon spricht, dass seine Methode schliesslich auch
zur Einsicht in das Ganze der Natur führe, die aller-
dings am Ende die höchste Bedingung einer absoluten
Erkenntnis sei.
Die entscheidende Stelle des Gorgias (465 a) für die
neue Methode t^xvtjv 8k aorJjv o5 yif](JLt elvat oXX' l[JL7C6tpiav,
— 48 —
eotiv, &3T6 TYjv attiav ixiotoo fj.*}) Sy/tv eiicsiv. 670) 8^ t^vnjv
OD xoXeb, 8 £v ig SX070V ffpäY|ta, sagt nichts weiter, als
was der Arzt fast mit denselben Begriffen (X^yoc,
altla, yootg) fordert. In der Medizin ist eben natur-
gemässerweise gegenüber der aT]|i.stov-Theorie einer em-
piristischen Schule, die von der tox>] abhängig ist, (das
oTjtieiov ist das medizinische, nicht das religiöse, wie Na-
torp behauptet) und gegenüber einer spekulativen und
mystischen Begründung diese Methode der rationalen
Interpretation der Tatsachen, die dem Erkennen zu-
gänglich sind, zum Zweck der Technik entstanden und
dann samt den Gegensätzen von Sokrates übernommen
worden und hat noch tief in Plato hineingewirkt. Das
scheint mir nach allem von grosser Wahrscheinlichkeit
zu sein.
Der Philosoph greift aber tiefer als der Arzt ^ Die
Krankheit des Lebens muss von der Seele aus geheilt
werden (Charmides), und die Gesundheit ist nur ein
Bruchteil der Güter, die wir in der Eudämonie zusam-
menfassen. Der sittliche Empirismus des Sophokles, der
so ganz idealistisch ist, weil ihm die religiös ethischen
Gedanken „so real sind, wie nur irgend eine sinnliche
Erfahrung"*, ist hier zu methodischem Bewusstsein ge-
kommen, welches jedes Gut, das es erlebt, sei es nun
die Lust, die aus dem Genuss entsteht, oder die Ge-
rechtigkeit und jede andere Tugend, als solches hinnimmt
und nur fragt nach seiner Stellung in dem rationalen
Zusammenhang der Gesamtheit der Werte. Für einen
Augenblick wird hier einer Menschenseele, die nur auf-
» Vgl. Zell er II 154. Auch Laches 195/96.
« Ed. Meyer a. a. 0. IV 122, 148.
— 49 —
fassen, nicht konstruieren will, der ganze Reichtum un-
seres Daseins sichtbar. 2000 Jahre lang ist das Leben
nicht wieder so objektiv- angesehen worden. Das war
die merkwürdige Freiheit des einen Individuums, dem im
ethischen Leben, wie seinem grossen Zeitgenossen in der
Medizin, der das Buch über die heilige Krankheit ge-
schrieben hat, auch „alles göttlich und aUes menschlich^
(icavra ^eia xal Tcdtvta ävÄpcoTrtva) erschien, weil ihm der
gute Wille selbstverständlich war, so dass nur die Ein-
sicht entscheidet, und mit der logischen Bewältigung der
Tatsachen auch ihre wirkliche Gestaltung gegeben ist.
Auch wir heute glauben wieder an eine immanente Re-
gelung der Werte, aber wir wissen, dass wir sie nur
erleben, nicht sie logisch sichtbar machen können, auch
nicht durch die kritische Methode einer Normenphilo-
sophie. Das ist der Erfolg der geschichtlichen Arbeit
des ethischen Denkens, dessen Schicksal schon in So-
krätes symbolisch gleichsam vor uns steht.
Vor ihm lag die ganze Breite der Erfahrungen
menschlichen Willens, der Tatsachen menschlicher Wer-
tung, der Zwecke und ihrer Rangverhältnisse zuein^
ander. Es schien ihm unmöglich, sie metaphysisch ab-
zuleiten oder sie psychogenetisch zu interpretieren; so
wie sie da waren in ihrer unberührten Tatsächlichkeit,
deren Realität fortgesetzt dem Bewusstsein gegenwärtig
ist, mussten sie aufgefasst und analysiert werden, bis
schliesslich die rationale Ordnung sichtbar wurde, in der
sie sich widerspruchslos neben- und übereinander stellten
und aus der sie dann ihren festen und logisch verankerten
Wert erhalten konnten, der in der Definition aus-
gedrückt ist.
Nohl, Sokrates und die Ethik. 4
— 50 —
So entsteht die Lebenstechnik. Kein Urteil darf
grundlos sein^. In der Auseinandersetzung muss der
Tatbestand entwickelt werden. Daö einstimmige Be-
wusstsein der beiden Partner ist der letzte Erkenntnis-
grund. Das Ziel des Urteils ist die vollendete Definition
eines Begriffs, als der Ausdruck klaren und deut-
lichen Wissens von ihm, in dem sein Inhalt und sein
Umfang ganz sichtbar wird — das Postulat der Auf-
klärung. Ein grosser Teil der sokratischen Lebens-
arbeit muss in der systematischen Aufhellung und Ord-
nung der Begriffe bestanden haben. Das Geheimnis des
Könnens der besten Männer, geschätztesten Hei*rscher
und besten Redner schien ihm diese Kunst des Aus-
einandersetzens der Begriffe, wie es im Dialog geschieht.
Schliesslich ist jedes Wissen gegründet in allgemeinsten
Sätzen letzter Art, aus denen sich die Gewissheit ab-
leitet. Es sind die allgemeinsten Voraussetzungen (otcö-
^cotg*), die allgemein angenommenen Wahrheiten, auf
die man den Beweis zurückführen muss. Und hier ent-
steht ihm nun sein eigentlich philosophisches Problem.
Auch diese Wahrheiten werden ihm zu Grundfragen.
Erst in ihrer widerspruchslosen Architektonik vollendet
sich das Wissen. Diese letzten Grundsätze, an denen
das gesamte Wissen, das zum Gelingen der Lebens-
führung nötig ist, hängt, sind die absoluten Werturteile
* Die Stellen für die Art seiner Forschung Arist. 1078 ^ 17,
1086b 3, 98761) 1-4, 1373b s, Xen. Mem. IV 5 11-12, 6 13-15, dann
vor allem der Gang der plat. und xen. Gespräche.
' Dieses Wort tritt schon bei Xenophon auf, Mem. IV 6 131.
Wie denn überhaupt von der Methodenlehre viel mehr auf Sokrates
zurückgeht, als Natorp annimmt, der alles dem Plato zuschiebt
(vgl. Piatos Ideenlehre, vor allem S. 46).
— 51 —
gut und schlecht,- gerecht und ungerecht, schön, schimpf-
lich und hässlich, angenehm und unangenehm, nützlich
und zuträglich. Ihr Inhalt muss definiert, die Kegeln
ihrer Beziehung zueinander klar aufgedeckt werden«
Das grosse Problem wird sein, ob sich die ganze em-
pirische Breite des Lebens so einfangen lässt in das
Netz unserer Begriffe. Und wenn das Denken auch
hier wieder nicht zum Ziel kommt, welche Wege es
dann einschlagen musste und eingeschlagen hat.
V.
Freiheit.
Allen Reformen des Sokrates lag der eine grosse
Glaube an die Allmacht und Notwendigkeit des Wissens
zu Grunde, in ihm ruhte die MögUchkeit der Päda-
gogik, der Rhetorik, der Lebensordnung überhaupt. Das
war die folgerichtige Konsequenz der Aufklärung. Jetzt
dringen wir tiefer in seine Persönlichkeit hinein und
finden diesen Glauben zugleich begründet in dem Be-
dürfiiis seines innersten Willens. Hier blicken wir in
das eigentlich aktive Ethos dieses Mannes. Da ist die
ganze Substanz menschlichen Strebens, wie sie in den
„Vorurteilen" der verschiedensten Art zu Tage tritt.
Er lässt sie alle gelten, der Wille ist immer auf ein
Gut gerichtet, das ist sein Wesen und sein Gesetz.
Kein Mensch tut freiwillig das Schlechte, oder besser —
wenn wir das Komplizierte dieses Ausdrucks zunächst
vermeiden — was dem Menschen nicht als Wert er-
scheint, das will er nicht, und er will immer das, was
4*
— 62 —
ihm momentan das Wertvollere dünkte Aber die Er-
fahrung lehrt ihn, wie oft dieser momentane Wille falsch
greift. So fordert die Eudämonie des Menschen, in
der sich sein ganzes Wesen erfüllt, die Besinnung über
das Verhältnis seiner einzelnen Antriebe, der Güter und
Werte, wie sie im Dialog sich offenbaren, über ihre De-
finition und schliesslich Gliederung in einen widerspruchs-
losen Zusammenhang, in dem der feste Punkt mensch*
liehen Wertens imd Handelns gegeben ist. In diesem
Wissen erreicht der Mensch seine Freiheit. Das ist
der letzte Satz des sokratischen Glaubens. Denn wer
das Gute weiss, der tut es. Das Wissen ist die absolute
Macht im Menschen. Sokrates leugnete die Akrasie,.
das Ueberwältigtwerden des bewussten Willens von der
Schar der andern Impulse. Aristoteles hat ihm schon
vorgeworfen, dass er damit das äXo^ov [Ji^poc ^»x'JJc auf-
hebe, Euripides im Chrysippos und im Hippolytos*^
wendet sich leidenschaftlich dagegen, und Joel hat die
härtesten Konsequenzen daraus gezogen, als ob es in-
der Psyche des Sokrates überhaupt nur rationale Ele-
mente gegeben habe. Schon der Superlativ in dem ooS^v
lo5(opöTepov hzioTfi^fi^ bei Aristoteles (1246*85) zeigt aber
das Vorhandensein wenigstens anderer Funktionen, und
der innerste Trieb seiner Seele offenbart sich in jeneni
denkwürdigen Worten, die Aristoteles (1145* 2b) ihn sagen
* Das ist kein abstrakter Grundwille, wie ihn Wildauser
(Die Philosophie des Willens bei Sokrates) konstruiert, den Sokra-
tes sofort mit seiner Dialektik, die immer nach bestimmten Gutem
fragt, zerstört hätte, sondern nur das Zeichen des Willens über*
haupt. Seinen Inhalt gibt das Leben, verlangt wird bloss das ratio-
nale Verhältnis dieser so vorhandenen Güter.
« Vgl. hier Nestle, Euripides S. 174.
— 63 —
iässt, die auch im Protagoras atehen und b^ Xenophon
^ 1 16, lY 2 S9) ähnlich vorkonunea Seiv&v Yop imaxii^rfi
ivo6(Tqc S}Xo Tt xpaiEiV xal icepidXxeiv a&tiv &<nc6p avSpdcTroSov.
'^Schrecklich wäre es, wenn den Menschen, trotzdem
ihm das Wissen einwbhnt, etwas anderes beherrschte
lind ihn herumzerrte, wie einen Sklaven.'' . Das Unter-
liegen der andern unter der Macht der Affekte hat er
wohl oft genug erfahren, aber sein Freiheitsgefiihl bäumt
sich in ihm auf gegen die Hilflosigkeit des Menschen
und seine' Sklaverei. Es muss ein Wissen geben, das
-uns frei macht. Es ist wieder nur ein Postulat, dieses
Wissen, aber alle Sehnsucht der Menschen muss darauf
ausgehen, es zu gewinnen. Dieses Wissen muss all-
mächtig in uns sein. Es kann ja gar nicht anders sein:
-„Seivöv Ydp"» Und auch sein Glaube an die Lehrbarkeit
der Tugend auf Grund des Wissens hat diesen tieferen
•Gehalt der Freiheit, denn mit ihr ist der Mensch erlöst
-von dem Fluch der Naturbedingtheit, der Geburt und
Basse, der sich die Dichter Griechenlands fast, alle
unterwarfen. Unabhängigkeit vom blinden Affekt wie
vom Zufall und der Geburt, Feststehen in der Gesetz-
mässigkeit des Lebens, deren Wesen das Beharren und
die Unwandelbarkeit und deren Ausdruck das Wissen
ist, das ist die Freiheit und die Grösse des Menschen,
und in ihrem Besitz erreicht er die Eudämonie. So
wird der Dialog, in dem die Wahrheit gesucht wird,
die ethische Aufgabe des Mannes. In dem Ziel der
Wahrheit, als der siegreichen Macht des Le-
bens, vereinigen sich alle seine Gedanken als in ihrem
Brennpunkt. Dieses Ideal des Wissens ist seine sitt-
liche Grösse, auf ihm beruht seine ethische Wirkung.
— 64 —
Der naive Empinsmus dnes Sophokles, so schön er war
in seiner freien Lebendigkeit des Glaubens, war schliess-
lieh wehrlos gegenüber der willkürlicfaen Vergewaltigung
des sittlichen Daseins, wie sie die jungerwachte Intellek-
tualität ausübte, die doch auch im Recht war, weil sie
das Handeln des Menschen loslöste aus der religiösen
Gebundenheit, in der es bei Sophokles erscheint. In-
dem Sokrates auch die ethischen Werte der Wahrheit
unterworfen glaubte, stellte er den Menschen ebenfalls
auf sich und sein Bewusstsein als den autonomen Bichter
über seine Ziele, zugleich aber bewahrte er die Sittlich-
keit vor der Zersetzung durch den egoistischen Willen
des einzelnen in der Forderung einer allgemeingültigen
Gesetzlichkeit, die über dem Individuum ist, wenn er
auch nicht mehr festzustellen vermochte, als die Auf-
gabe des Wissens,
Eine tiefe innere Beziehung verbindet den Idealis-
mus der Persönlichkeit mit einem rationalen Radikalis-
mus. Das Subjekt, das, wo ein klares Gebot der Gott-
heit nicht mehr gilt, auf sich steht und aus seiner Seele
heraus handeln will, muss sich auf die Wahrheit stellen,
die die logische ist. So dachten auch Descartes und
Eant. Der Satz des Widerspruchs wird der Halt, an
dessen Hand der Mensch frei durch die Wirrnis des
Lebens hindurch zu schreiten hofft.
— 55
VI.
Die Aporie des Sokrates.
Wer die Antigone kennt, weiss, wie der Dichter
den guten Willen des reinen Herzens zu bewahren ver-
mochte vor der falschen Reflexion des Verstandes, nicht
anders als die Iphigenie Goethes: „Ich dei^ke nicht, ich
fühle nur.** Sokrates stand vor der Aufgabe, den ganzen
sittlichen Gehalt seines Innern logisch zu begreifen, um
ihn zu sichern, und der Philosoph kam da nicht zum
Ziel. Aber der grosse göttliche Mensch ging ebenfalls
frei in den Tod für die Ueberzeugung seines Herzens,
die auch ihm gewiss war über alles Begreifen hinaus.
Alles, was an ethischer Substanz im griechischen
Volke noch vorhanden war und in den grossen Tragödien
sichtbar wurde, das Bechtsgefühl vor allem, die Hingabe
an den Staat und die Allgemeinheit, das Ideal der
Freundschaft, die Schätzung der grossen Tugenden, der
Besonnenheit, der Tapferkeit, der Frömmigkeit, all das
sind auch ihm unerschütterliche Werte, unberührt von
aller Skepsis, die grossen Tatsachen seines Lebens. Aber
auch der Genuss des Daseins, die Nutzbeziehungen sind
ihm in den Zwecken menschlichen Willens enthalten,
und alles das in seiner gesamten Totalität macht die
Glückseligkeit des Menschen aus, in der die vollendete
Befriedigung erreicht ist So geht er nun mit der rast-
losen Energie seines Denkens an die Bestimmung des
Lebensgehalts, der in seiner mächtigen Persönlichkeit
beschlossen ist. Diese ganze konkrete Innerlichkeit gilt
es zu klären, im Dialog aus dem Bewusstsein des andern
— 56 —
zu entwickeln und zu definieren und so die rationalen
Beziehungen dieser Werte, die unausgesetzt erlebt und
ausgesprochen werden, ins Bewusstsein zu heben, um
das Kriterium des gelingenden Handelns zu haben.
Der wundervollen Heiterkeit seiner eigentümlichen
Seele war ein böser Wille nicht denkbar. Darum ist in
seiher Bestimmung der Eudämonie noch nicht von eigent-
licher Sittlichkeit die Eede — wenn denn Sittlichkeit durch-
aus das Erlebnis des Zwiespalts menschlichen Wollens
und der Tat aus dem Bewusstsein des Sollens sein muss.
Noch ist es die gesamte Breite menschlicher Zwecke
überhaupt, wie sie nach Befriedigung verlangen in un-
gebrochener Ganzheit, die er vor sich hat, in denen sich
unser Wesen auslebt und die nur nach Gliederung ver-
langen, nicht nach Rechtfertigung oder Forderung. Mit
diesem Lebensgefühl, das allseitig jedes Gut gelten lässt,
hat er zu jedem Menschen ein verständnisvolles Verhältnis
und stets einen gemeinsamen Boden und Ausgangspunkt.
Und da er glaubt, dass der begreifliche Zusammenhang,
der jedem Gut seinen festen Platz anweist, den logischen
Zwang in sich trägt, so muss auch Gerechtigkeit^ Auf-
opferung und wahre Freundschaft etc. einem jeden als
in der vollkommenen Eudämonie enthalten beweisbar sein.
Das ist der merkwürdige Erfahrungsstandpunkt seines
Idealismus.
Wenn Sokrates im Kriton (49 d) sagt: „Ich weiss
wohl, dass nur wenige dies glauben und glauben werden"
— nämlich dass unrecht leiden besser ist als unrecht
tun, „zwischen denen, die dies annehmen und die es
nicht tun, gibt es keine gemeinschaftliche Beratung; son«
dem sie müssen sich notwendig gegenseitig verachten,
— 67 —
wenn einer d^s andern I^tschlüsse sieht; überlege also
auch du recht wohl, ob du Gr^meinschaft. mit mir machst
und dies auch annimmst^, dann ist das erst platonisch.
Es ist die neue Einsicht, die das Leben und der Tod
des Lehrers gab und aus der eine dualistische Metaphysik
sich erhebt, die solche Geschehnisse allein zu erklären
vermag. Sokrates selbst glaubte an die Allgemeingültig-
keit der Erfahrung und ihre immanente Logik, und sein
Lebensgefühl wurzelte tief in der Volksethik des griechi-
schen Eudämonismus, dessen Ideal, die xaXoocaYaftia, in
seiner seltsamen Zusammensetzung ebenfalls den ganzen
Komplex menschlicher Güter umschreiben wollte, zu
denen das Sittliche so gut gehörte wie Beichtum, Buhm
und Gesundheit.
Das Glück war auch das schwere Problem der
griechischen Tragödien, nicht wie das oft behauptet wird,
die Sittlichkeit, sondern ihr Erfolg in der Gerechtigkeit des
Weltlaufs ; so sind die Ideale, an denen die Dichter ar-
beiten, die göttlichen, nicht die menschlichen; was sie darr
stellen ist der Schicksalszusammenhang, die Theodicee,
nicht ethische Entwicklung im Kampf der Innerlichkeit.
Das ist die notwendige Folge der religiösen Gebundenheit
der Tragödie, in der die sittlichen Forderungen als gött-
liche Gebote erscheinen. Erst die Aufklärung löst den
Menschen hier los, indem sie ihn auf sich und seine Ent-
scheidung stellt. So kann jetzt erst ganz allmählich die
Charaktertragödie entstehen, in der wir die Wandlung
einer Seele beobachten, die aus eigener Kraft geschieht,
und in der der Mensch sich über das Schicksal erhebt,
wie jdas am tiefsten im zweiten Teil des Herakles erreicht
ist. Aber die eigentümliche griechische Anschauung von
— 58 —
der Seele, die gleichsam physiologisch ist, liess es hier,
auch abgesehen davon, dass die Tragödie von ihrem re-
ligiösen Ursprung nie ganz los kam, nicht zu völliger Frei-
heit des Handelns kommen. Schliesslich hört der Sterb-
liche doch immer nur die eine Antwort, dass es ein Unglück
für ihn ist, wenn ihn das Leben zu hoch gehoben hat, den
Fluch einer übermenschlichen „Natur"* Diese physio-
logische Anschauung wirkt in der Aufklärung weiter und
kommt zu ganz klarer Fassung in der Charakteristik des
Themistokles durch Thukydides (1 138), der Beurteilung
eines Menschen aus der „Kraft seiner Natur" ohne ir-
gend eine moralische Beimischung. Sie allein ermöglichte
auch den frühen Uebergang zu einem „Naturrecht", wie
es die Sophisten schufen. Der Mensch ist jetzt das Mass
der Dinge geworden, aber er ist stecken geblieben in
den Banden der f ook;. Soviel ich sehen kann, ist Sokrates
der erste, der über diese Schranke frei hinausgeht, min-
destens ist in ihm das neue Lebensgefühl zur Beife ge-
kommen. Jetzt nimmt das bewusste Individuum die
Zügel des Schicksals in seine eigenen Hände. Souverän
gestaltet es sein Leben, das es von seiner Erkenntnis
bedingt sieht, und der Optimisonus entsteht, der den
Weltlauf den Zwecken des Menschen unterworfen weiss.
£s ist nicht meine Aufgabe, hier auf das schwierige
Problem der sokratischen Religion einzugehen. Hat
Sokrates da eine Antwort gegeben, so hat sie sicher in
der Sichtung gelegen, die Xenophon in den Memorabilien
und Piaton im Phädon zeigen, nämlich die metaphysische
Orientierung eines Idealismus der Persönlichkeit, dem
aber, da die Begriffe des Gesetzes, der Pflicht und der
Verantwortlichkeit, die erst bei den Bömern entstehen,
— 59 —
nicht wirksam sind, und die Ethik aus dem eigenen
Willen des Individuums erwächst, die lebendige und per-
sönliche Beziehung fehlt Das Entscheidende ist doch,
dass das Glück jetzt in der Gewalt des Menschen selbst
ist Wie weit bei Sokrates die Bedingtheit des Erfolges
noch in der Hand der Götter lag und welche Bedeutung
das Dämonium hier für ihn gehabt hat, lässt sich kaum
sagen. Auf jeden Fall, das hat Joel bewiesen, steht er im
Gegensatz gegen die abergläubische Schicksalsverehrung
und ihre Konsequenz, die Mantik. Das neue Ideal ist
die eunpa^Ca, die Glückseligkeit, die der Mensch sich
schafft, nicht die exyco)(lciL des Zufalls: ja nach dem
Euthydem war ihm mit dem Wissen der Erfolg gegeben
— auch hier die paradoxe Ueberspannung der Macht der
Erkenntnis, hinter der aber wieder der tiefe ethische
Glaube stand, dass auch das Schicksal der Wahrheit ge-
horche, ein Glaube, der die höchste Energie des Menschen
frei werden lässt. Auch die Götter lieben, das ist seine neue
Gewissheit, denjenigen am meisten, der durch sein Berufs-
können den Erfolg für sich hat, den praktischen Erfolg des
Arztes und Herrschers so gut wie den innerlichsten der
höchsten Sittlichkeit, in dem er selbst freiwillig den Tod
erlitt. Es lässt sich schwer bestimmen, wie solche Geistes-
verfassung zum Gebet gestanden haben wird. Man solle
einfach „um das Gute^ bitten, heisst es in den Memora-
bilien, aber das war ja das Wissen und seine Folgen und
lag in der eigenen Macht. Schliesslich musste eine solche
Stellung gegen das Leben zu einer unreligiösen Isolierung
des Menschen auf sich selber fuhren und zu einer fal-
schen Beschränkung dessen, was Glück genannt wird,
auf die Güter, die von seinem Willen abhängig sind.
— 60 —
eine Konsequenz, zu der die eudämoniatische praktische
Ethik immer wieder gedrängt wird, die einen rationalen
Weg zum Glück führen will und so den Beichtum der
Güter willkürlich beschränken muss, wie denn der Kyniker
und der Stoiker nur noch aus sich selber leben soll und
aus seiner Negation der Welt. Für Sokrates, der das
gesamte Dasein der Einsicht durchdringbar glaubte, waren
aber auch die objektiven Güter in der Eudämonie ent-
halten, alles Schöne und Edle, die Ordnung des Staates,
auch die Süssigkeit des Lebens. Das alles musste in
einen Zusammenhang gebracht werden, in eine Güter-
ordnung, aus der dann auch die Tugenden abzuleiten
waren.
Lebenslang hat er nun gearbeitet an der Zerlegung
der so ineinander gewachsenen und sich behauptenden
Willensantriebe und Wertgefühle. Und wie jeder Mühe
des Intellekts, hier eine rationale Einheit herzustellen,
das realistische Bewusstsein von der unzerstörbaren Gültig-
keit der Werte, welches eine einseitige Bestimmung nicht
dulden will, unauflöslich gegenüberstand, so bekennt sich
die Keflexion am Ende des Lebens wie am Anfang zu
der BesultaÜosigkeit des Nichtwissens. Man mag über
die platonische Apologie und ihre Verschiebung der
.wirklichen Verteidigungsrede denken wie man wiU —
ihre Echtheit kann man kaum bestreiten — sie muss in
den .Tatsachen, die sie erzählt, Wahrheit bieten. Eine
solche Tätsache aber ist, dass .Sokrates nicht nur keine
Erkenntnis der Natur besitze, sondern sich auch nicht
als Lehrer der Tugend ausgebe, weil er nicht wisse,
.was sie sei. Ausdrücklich wird hier der Argwohn der
Ironie abgewiesen: „Vielleicht wird manchem von euch
— 61 —
bedünken, ich scherzte ; glaubt indes sicher, dass ich die
reine Wahrheit rede."
Die eigentümliche Verbindung mit dem Orakel, in
der das Nichtwissen auftritt, als ob es der eigentliche
Inhalt seines Lebens gewesen sei, kann hier unerörtert
bleiben. Das Bewusstsein von der Uebermenschlichkeit
der Wahrheit, von dem ewigen Nichtwissen des Menschen,
aber seinem unermüdlichen Streben, ist wohl platonisch,
wie es dann im Lyses und später im Gastmahl so wunder-
voll zum Ausdruck kommt. Entstanden war es dem Pluto
aber allerdings aus dem sokratischen Schicksal eines im-
mer wieder resultatlosen Denkens, das er ganz durchleben
musste, und es war eine der möglichen Lösungen, die
seine Schüler für diese rätselhafte Erscheinung gefunden
haben. Im Charmides, Theätet, Phädrus, Menon, Sym-
posion, Staat taucht das Bekenntnis der Unwissenheit
immer wieder auf. Unter den wenigen Fragmenten, die
wir von Aeschines haben, findet es sich: xal 8"^ xal 4y«ö
S|jL(i)c $(iT]v £uvd)V £v lxs(v({) Sia TG Ipotv ßeXttü) rofy^aav.
Der Ausdruck des Wissens war die Lehrbarkeit,
aber nach Mem. I 11, 12 bekannte er sich nie dazu,
Lehrer menschlicher Dinge sein zu wollen. Xenophon
kann nur sagen: „Er wirkte durch die Tat." Und noch
charakteristischer ist Mem. IV 4 9— ii. „Es ist gewiss,
dass du andere immer ausfragst und in die Enge treibst
und selbst keinem Bede stehst und über nichts deine
Meinung sagst." Wieder lässt ihn Xenophon antworten:
„Sind es auch nicht Worte, so ist es doch die Tat,
wodurch ich an den Tag lege", was ich für gerecht halte.
„Oder glaubst du nicht, dass auf die Tat mehr zu gebeii
_ 62 —
sei, als auf das Wort?'' Das ist natürlich vollständig nn-
sokratisch, aber es war doch auch eine Interpretation der
Erscheinung des Lehrers, welche die lebendige Macht
seines resultatlosen Lebens, die doch so stark empfunden
wurde, weiter entwickelte. Schliesslich überliefert auch
Aristoteles: Sokrates fragte immerund antwortete nicht,
weil er behauptete, nichts zu wissen.
Hier wird seine Methode mit dem Nichtwissen in
Verbindung gebracht und die Dialoge Flatos zeigen in
ihrer Entwicklung, wie diese künstlerische Form bedingt
ist von dem Mangel einer abgeschlossenen Erkenntnis.
Je dogmatischer seine PhUosophie wird, um so bedeutungs-
loser wird die Form, bis schliesslich im Timäus der ge-
schlossene Vortrag an ihre Stelle tritt. Die ganze Schön-
heit der jungen Werke liegt darin und ihre tiefsinnige
Wahrheit, dass nicht ein Wissen in ihnen expliziert
werden soll, sondern nur so die Lebensstimmung, die
lebendige Gemeinschaft des Philosophierens, deren Seele
der Eros ist, zum Ausdruck kommen kann, und in der
Persönlichkeit des Lehrers die Gewissheit der Wahrheit
und die Grösse des Willens über alles Wissen hinaus zu
Tage tritt. Man muss sich dies ganz deutlich machen, um
die poetische Triebkraft fast aller Schüler des Sokrates zu
verstehen. Plato ist ja nicht der einzige und nicht der erste
gewesen, der in dem Irrationalen der künstlerischen Dar-
stellung allein das Mittel fand, sich den 'Gehalt dieses Le-
bens fassbar zu machen und andern mitzuteilen, das so er-
haben vor ihnen gestanden hatte, ohne sich auszusprechen K
* Hätten die Schüler positive Sätze zu überliefern gehabt,
es wäre nicht zu dieser Literatur gekommen. Zu Memoiren viel-
leicht, denn die Gesellschaft der Zeit hatte ein Bedürfnis sich zu
— 63 —
Denn das ^ar eigentlich seinen Zuschauern das
Erstaunliche an ihm, und wenn man denn so will, das
Ungriechische, wenigstens das Neue: diese Gehaltenheit
einer Person, deren ganzes Tun die mächtigste Ueber-
zeugung und untrüglichste Sicherheit des WoUens aus-
drückte, die doch alles verschliesst in die Schweigsam-
keit der Seele. Während die andern alle ihr Denken
sofort hinausreden müssen, ihr Schwatzen alles ans Licht
und vor die Augen tragen muss, bewahrt dieser Mensch
sich und sein Schicksal in seinem Busen. Nur die Wahr-
heit hat allein für ihn den Wert, ausgesprochen zu werden.
Es handelt sich immer nur um die Sache. Was in seinem
Innern vorgeht, verrät kein Zug. Der Scherz und die
Ironie ist das Mittel, ihn vor jedem fremden Eingriff zu
schützen (vgl. Xen. Symp.). Und wie ihm das Dämonische
in den Erfahrungen seiner Seele noch bewusst ist, das
der Rationalisierung nicht unterliegt, und wie er in ek-
statischem Grübeln die Geheimnisse seiner Innerlichkeit
überdenkt, ist er den andern ein Rätsel, wie es am tiefsten
im Symposion des Plato ausgesprochen wird. Hier ist
das Urphänomen eines grossen Individuums allen sicht-
bar geworden ^ Die „Kraft der Natur" eines Alkibiades
war jedem Griechen verständlich, er hasste oder liebte
ihn , in Sokrates aber schien ein höheres Leben sein
spiegeln. Aber es handelt sich immer zuletzt hier um die eine
merkwürdige Person und um die Mitteilung des eigentümlichen
Erlebnisses: „Ich lernte zwar nichts von dir, aber ich wurde \
besser, wenn ich mit dir sprach.** Selbst Xenophon bringt, wenn
man seine Dialoge richtig liest, nämlich als nicht zu Ende geführt,
sehr wenig feste Antworten, die sich nicht leicht als seine eigenen
nachweisen lassen.
* Vgl. auch J. Bruns, Das lit. Portrait d. Gr. S. 203.
— 64 —
Geheimnis zu offenbaren. Welche leidenschaftliche, fast
religiöse Hingebung erfuhr er von den Chärephon und
Apollodor, wie rang selbst die irdische Leidenschaft des
jungen Alkibiades um das Rätsel des wunderbaren
Lehrers. Die Innerlichkeit stand hier plötzlich vor allen
in ungeheurer Grösse. Der äussere Glanz verschwand
mit einem Schlage. Die kynische Lebensweise « — ^ dass
sie schon Sokrates selbst geführt, beweisen die Wölken;
und der Phädrus — die Vernachlässigung der ökono-
mischen Praxis, alles erschien der Zeit unbegreiflich,
unvereinbar diese Schönheit der Seele mit den hässlichen
Formen seines Gesichts, die Tiefe seiner Wahrheit mit
der prunklosen Schlichtheit seiner Worte. Er verkündete
die Lehrbarkeit jedes Könnens, die Allmacht des Wissens,
die Glückseligkeit der Wahrheit, er selbst schien im
Besitz dieser Eudämonie zu leben und behauptete doch,
nichts zu wissen und immer noch suchen zu müssen.
Der Spott, der Hass und der hingebende Glaube haben
sich an diese Tatsache gehängt, das tiefe Verständnis
für dieses Leben besassen, jeder in seiner Weise, nur
zwei seiner Schüler, Antisthenes und Plato.
VII.
Grund der Aporie und ihre Konsequenzen
bei den Schülern.
Wie ein Blitz erleuchtet nun die Tatsache der Aporie
eine ganze Zahl der Probleme der sokratischen Literatur ^
* Ich erinnere an die Schwierigkeit, dass ihm das Wissen
allmächtig schien. Solange es ihm fehlte, konnte er die Unmög-
lichkeit der Akrasie behaupten.
— 65 —
Vor allem lässt sich von hier aus ein Mittel finden,
um endlich einmal die inhaltliche Problemstellung des
Sokrates und seine Lösungsversuche durchsichtig zu
machen. Von vornherein verschwindet mit dem nega-
tiven Besultat seiner Lebensarbeit die Anschauung, die
ihn zu einem dogmatischen ütilitaristen macht — solche
Leute endigen niemals mit einer Aporie. Zugleich ist
aber auch jene Reduzierung der sokratischen Ethik auf
einen Formalismus als das eigentliche Ziel seiner Philo-
sophie, wie sie Natorp^ versucht, unmöglich. Sokrates
ist es um eine materiale, objektive Bestimmung, um den
Inhalt des Wissens, den Zweck, zu tun. Dass schliess-
lich der Rationalismus hier überhaupt nicht über die
Forderung des Gesetzes, die sog. „Normen" hinaus-
kommt, und dass sein letztes Motiv des Handelns immer
die logische Wahrheit wird, wenn er nicht im Hedo-
nismus hängen bleibt, ist sein folgerichtiges Schick-
sal, wie sich denn auch aus der Ethik unserer Auf-
klärung Kant auf das formale Kriterium zurückzog, das
sowohl die sittliche Beurteilung wie den sittlichen An-
trieb rational zu machen scheint. Das bedeutet dann
weiter nichts als die Objektivierung des Postulats einer
allgemeingültigen Erkenntnis. Und so steht auch Sokra-
tes immer wieder vor dieser letzten Sicherheit, dass es eine
Wahrheit geben muss, die der einzige Bestimmungsgrund
des Willens sein darf, aber allein schon seine Voraus-
setzung, dass der Wille immer das Gute will, zeigt den
objektiven, materialen Sinn dieser Wahrheit. Und wenn
ihm das Gute immer identisch wird mit der Erkenntnis
* Natorp a. a. 0. S. 27.
Nohly Sokrates und die Ethik. 5
— 66 —
des Guten, so ist er sich des Misslingens seiner Unter-
suchung eben bewusst.
Mem. I 4 1 heisst es: Manche glaubten vom Sokrates»
hindern sie es aus dem, was einige mündlich oder.schrift«
lieh Yon ihm berichteten, schlössen, däss er zwar darin
vollkommen stark gewesen sei, den Menschen zur Tu-
gend anzutreiben, aber nicht zu derselben habe hinführen
könnend Maü sieht, dass es damals schon eine kri-
tische Opposition gab, die dem Sokrates auf Grrund der
Dialoge, die ihn darzustellen suchten, die Eesultatlosig-
keit vorwarf. Im Kleitophon ist uns nun eine solche
Rezension erhalten, und wir überschauen in ihr eine
breite Literatur der verschiedensten Schüler des Sokrates,
die trotz aller Anstrengung überall mit der Aporie endeten,
Ist es zuviel behauptet, dass dies in dem Ausgangspunkt
des Lehrers gelegen sein musste, dass das eben seine
Aporien waren? Zu jenen negativ verlaufenden Dia-
logen gehören aber auch aUe Werke des jungen Plato.
Solange man sie mit Schleiermacher und Bonitz als
„didaktisch^ vorbereitend ansah, musste man in der
Besultatlosigkeit ein rednerisches Kunstmittel erblicken,
das ironische Spiel eines Menschen, der die Wahrheit
längst besitzt. Aber ganz abgesehen von der ernsthaften
Behauptung des Nichtwissens, welcher junge Mensch
vermag seine Produktivität so zu zähmen, dass er Jahre
hindurch sein bestes Wissen willentlich verbirgt?* Zu-
^ Ich will hier gleich sagen, dass ich an eine Schriftstellerei
Flatos zu Lebzeiten Sokrates glaabe, wenn er auch seine Dialoge
nicht veröffentlicht haben wird. Da hat Jvo Bruns sicher recht,
auch widerspricht dem das Verbot des Sokrates, das in der Apo-
logie (39) erwähnt wird. Mir scheint aber auch gerade dieses,
— 67 —
dem muss man da von« der entwicklungsgeschichtlich
unmöglichen Voraussetzung ausgehen , dass Plato den
Zusammenhang seiner Einsicht von vornherein besessen
habe. Dümmler * und Joel verstehen diese Dialoge mit
negativem Ausgang als die Kritiken fremder sokratischer
Standpunkte; dann stände auch hier die feste Erkennt-
nis dahinter — eine wunderliche Art der Polemik, die
den sicheren Massstab der Wahrheit hat, ihn aber nie-
mals benutzt. Beidemal ist die positive Energie ver-
kannt, die mit allen Schmerzen eines leidenschaftlichen
Wissensdranges sucht und die systematische Arbeit eines
auf Erkenntnisbestimmung gerichteten Geistes ist. Man
sieht Plato in dem Zustand, den jeder Schüler den ver-
trauten Fragen seines Lehrers gegenüber durchmacht,
und wir glauben ihm, wenn er von seinen „Tantalus-
schätzen" spricht und dass er „wie im Taumel in der
^welche ich nur bisher zorückgehalten^, zu beweisen, dass manche
der Dialoge schon geschrieben waren. Bei diesem Eifer, die Keden
zu hören und andern wieder zu erzählen, über dem von den ernste-
sten Männern, wie von Kindern, wenn ihnen ein Märchen erzählt
wird, alle Greschäfte vergessen werden, wäre es seltsam, wenn sie nicht
von den Schülern notiert worden wären. Im Theätet wird es ja
auch behauptet. Mir ist immer das Merkwürdigste, dass es eine
mögliche Form für Plato war, den Sokrates selbst gehabte Ge-
spräche wiedergeben zu lassen, wie im Charmides, Lyses, Prota-
goras, Euthydem, am groteskesten in der Politik. Sokrates muss
eben selbst seine Dialoge mit andern schon kunstmässig wieder-
erzählt haben. Wie es denn im Theätet heisst: „Da ich nun nach
Athen kam, erzählte er mir die Unterredungen, welche sie gehabt.**
Mit dem Gorgias, zu dein die Apologie und der Kriton in engster
Beziehung stehen, setzt die neue Periode ein, die ein durch den
Tod des Sokrates ganz verwandeltes Lebensgefühl hat (vgl. Dümm-
ler, Akademika), aus dem die neue Philosophie entsteht.
' Vgl. Akademika S. 60.
5*
— 68 —
Irre laufe und wie im Fieber^ \ Denn das ist nun das
Entscheidende: auf den Wegen und bei den Voraus*-
setzungen, die in diesen Dialogen gelten, kann an eine
Lösung gar nicht gedacht werden, hinter diesen Aporien
kann gar kein Wissen stehen, denn sie sind tödlich.
Erst eine Verschiebung des Ausgangspunktes ver-
mochte aus einem ganz neuen Lebensgefühl heraus das
Denken darüber hinauszuführen. Ich setze aber gleich
hinzu, dass mir die meisten auch der späteren Dialoge
Piatos viel mehr von dieser philosophischen Lebendig-
keit des Problemesehens und nur hypothetischen Lösen-
könnens zu besitzen scheinen, als man gewöhnlich dar-
stellt. Seine ganze Philosophie hat durch die Ueber-
nähme der sokratischen Methode, die Tatsachen des
Bewusstseins stehen zu lassen und auf ihre Bedingungen
zurückzugehen, diese Eigentümlichkeit behalten, bis in
die späten Jahre undogmatisch zu bleiben. Wie er keine
fertige Lehre zu übermitteln hatte, so bleibt ihm auch
seine Ideenlehre Zeit seines Lebens eine Hypothese, mit
der er die Probleme des Lebens und der Wirklichkeit
zu erklären versucht, die aber fortgesetzt die flüssige
Lebendigkeit bewahrt. Immer ist ihm das Wissen als
eine unendliche Aufgabe erschienen und die Aporie
Menschenschicksal, das er sich metaphysisch zu begrün-
den versuchte.
Jene Voraussetzungen und Ziele aber, die den nega-
tiven Erfolg der ersten Dialoge bedingen und erst durch
die Plato ganz eigentümliche Ideenlehre beseitigt sind,
werden schon dem Lehrer gehören. Und nehmen wir
* Vgl. auch Lysis 216 c.
— 69 —
dazu, was vir von der Beurteilung des sokratischen
Wissens durch Antisthenes, von seiner Benutzung der
Dialektik zurEristik wissen, schUessUch die paradigma-
tische Protreptik, die Flato dem Antisthenes gegenüber im
Euthydem ausspielt, so haben wir ein breites Material,
um uns die Arbeit des Sokrates und zugleich in etwas die
Entwicklungsgeschichte seiner Schüler deutlich zu machen.
Kleitophon stellt sich ganz auf den Boden der
sokratischen üeberzeugungen. Er glaubt an die ün-
freiwilligkeit des Bösen, an das Herrschaftsrecht der
Technik und die Notwendigkeit der Bildung, aber for-
dert nun auch eine Befriedigung dieser ethischen Auf-
regung. „Soll dies unser ganzes Leben lang unser Ge-
schäft sein, die noch nicht aufgeregten anzuregen, und
diese wieder andere?** Wir sind uns einig, dass der
Mensch das tun müsse, aber was nun? Wie fängt man
es nun an, die Gerechtigkeit zu lernen? So rächte sich
die platonische Uebertreibung der Protreptik in der
Apologie. Aber nun geht die Kritik weiter auf die
Bestimmungen der Dialoge. Welches ist der Wert der
Gerechtigkeit? Da lauten die Antworten verschieden:
Das Vorteilhafte, Geziemende, Nützliche, Zweckmässige.
Nun hat aber jede Technik ihr eigenes Ziel, also die
Gerechtigkeit? Da sagt denn der scharfsinnigste von
den Schülern: die Freundschaft, die als unbedingtes
Gut bestimmt wird, näher dann als Gleichgesinntheit
und zwar auf Grund gleicher Erkenntnis. Wo sich
denn der Zirkel auftut, denn die Frage ist eben nach
•dem Inhalt dieser Erkenntnis. „Die von dir beschriebene
Gerechtigkeit weiss selbst nicht, wohin sie zielt, und un-
bekannt ist, welches wohl ihr Wert sein mag.**
— 70 —
Eine andere Aporie zeigt sich darin, dass dnmal
den Feinden zu schaden gerecht ist, ein andermal die
Grerechtigkeit immer nur Gutes tut. Es ist der Wider-
spruch, der den Historikern immer zwischen Plato
(Grorgias, EepubUk) und Xenophon (IV 2 15) entgegentritt,
der sich aber dem Sokrates selbst schon gezeigt hat, nicht
aber als zwei verschiedene Stufen der Sittlichkeit, wie
er uns leicht erscheint, sondern als das Gegeheinander-
stossen der utilitarischen mit der rein ethischen lieber-
legung, deren beiderseitige Berechtigung ihm Voraus-
setzung war (s. das I. Buch der Republik). Die Kritik
schliesst dann: „einem schon aufgeregten Menschen
kannst du fast sogar ein Hindernis sein, dass er, nicht
zur Vollendung in der Tugend gelangend, glückselig
werde, Kleitophon will sich noch lieber dem Thrasy-
machos in die Arme werfen. Eins der Werke, auf die
er zielt, muss das I. Buch der Bepublik gewesen
sein. Das ursprünglich isolierte Erscheinen desselben
lässt sich heute wohl kaum noch bestreiten. Siebecks
sprachstatistische Untersuchungen beweisen das, ebenso
auch die Aenderung in Situation, Methode und Stil, die
mit den andern Büchern eintritt. Aber das Problem
der Ueberarbeitung schliesst jede Sicherheit aus, darum
möchte ich hier auf die Dialogführung nicht eingehen.
Seinem ganzen Wesen nach gehört indes der Anfang
eben noch in jene Periode Piatos, in der er von sokra-
tischen Voraussetzungen aus die feste Definition sucht
und das Bewusstsein der Ungelöstheit der eigentlichen
Kernfrage behält. Die Gerechtigkeit ist die Wissen-
schaft Yon dem Naturzweck der Seele, aber noch fehlt
ihm die Möglichkeit einer inhaltlichen Bestimmung, und
— 71 —
80' schÜBsst das Buch: ^Solange ich nicht weiss , was
die Gerechtigkeit ist, hat es gute Wege, dass ich wissen
soUte, ob es eine Tugend ist oder nicht und Ob der,
welcher es an sich hat, nicht glückselig ist oder glück-
selig.*' Der Gorgias fand hier die Antwort und im
Elriton gilt der Beweis schön als Yoraüssetzüng.
Der zentrale Dialog der sokrätischen Stufe Piatos
ist der Frotagoras. In ihm überschaut man die ganze
Lage und den Zusammenhang der Probleme ain um-
fassendsten. ' Natorp hat eine schöne Analyse dieses
Dialogs gegeben, aber da er von der ganz grundlosen
Voraussetzung ausgeht, dass für Sokrates die Tugend
nicht lehrbar sei — absolut nicht — verschiebt sich
ihm der Zusammenhang und das Resultat. Sokrates
leugnet die Lehrbaxkeit nur bei der gegebenen Lage des
Nichtwissens, und zeigt dann als die Bedingung der
Lehrbarkeit die Erkenntnis. „Denn wenn die Tugend
etwas anderes wäre als die Erkenntnis, wie Protagoras
zu behaupten unternahm, so wäre sie sicherlich nicht
lehrbar.** Indem er dann davon ausgeht, dass das An-
genehme ein Gutes sei, zeigt er, dass es eine Rechen-
kunst des Lebens geben könne, die alles Handeln ab-
misst nach diesem letzten Zweck der Lust: dass also
die Tugend, die das Gute tut, ein Wissen sei. So
scheint die Lehrbarkeit bewiesen, und Sokrates sagt
lächelnd: „So scheine ich mich selbst widerlegt zu
haben**, aber es fragt sich eben noch, ob die Induktion,
die das Resultat gegeben hat, nicht unvollständig ist, ob
mit dem Angenehmen der Begriff des Guten erschöpft
ist. Die Lust ist etwas Gutes, das ist auch seine feste
Voraussetzung. Er lässt aber auch offen, ob nicht „das
— 72 —
Gute noch etwas anderes sei als die Lust, und das
Böse noch etwas anderes als die Unlust." Für die
augenblickliche Beweisführung genügt es. Denn von
dem Angenehmen führt ein klarer Weg zur Bestimmung
der Tugend als Wissen. Der Hedonismus ist die eine
Möglichkeit, die dem Bationalismus gegeben ist, die
Werte zu ordnen, indem er sie als qualitativ gleiche
quantitativ nebeneinanderstellt. — Auf die verschiedenen
spezialen Formen, die dann auch hier wieder logisch
ganz gleichwertig erscheinen können, gehe ich nicht ein.
Ganz falsch ist es, bei der sokratischen Annahme
der Lust als etwas Gutem von einem Zugeständnis an
den Sophisten zu reden, um von dessen Standpunkt aus
die Einheit der Tugenden im Wissen zu beweisen. Denn
damit hätte er sich selbst nichts bewiesen. Aber ebenso
muss auch gesehen werden — und das ist vor allem gegen
die Abhandlung Heinzes gesagt — , dass ihm damit die
ganze Tugend noch nicht bestimmt ist, denn er verlangt
eine neue Untersuchung, was sie denn nun sei. Die
Aporie tritt selber nicht auf. Das aber ergibt sich
deutlich: Das Angenehme ist einer der Bestandteile,
die in der Substantialität des Sittlichen enthalten sind.
Von ihm aus lässt sich die Möglichkeit des Wissens
klar demonstrierend Trotzdem aber hält Sokrates die
Tugend noch nicht für lehrbar, weil das Wissen damit
noch nicht endgültig bestimmt ist, da das Angenehme
den Gehalt der Güter nicht erschöpft.
^ Hier setzt dann Aris tipp ein. Auch sein Standpunkt war
gegründet in dem sokratischen, war mitenthalten in der vollen
Menschlichkeit des Meisters, wurde nun aber isoliert herausgehoben
und konsequent durchgeführt.
— 78 —
Einen tieferen Einblick in das Gewebe der Ge*
danken und die notwendige Verwirrung der Fäden, die
schUesslich immer abrissen, geben uns der Ljses, Char-
mides, Euthyphron und Hippias d. Gr.
Der Lyses will bestimmen, was Freundschaft sei.
In mehrfachem Ansturm geht die Untersuchung vor und
sinkt immer wieder zurück, bis schliesslich die Freunde
— und Sokrates rechnet sich beim Abschied ausdrück-
lich darunter — betäubt auseinandergehen, die sich
Freunde nennen und nicht einmal wissen, was das sagen
will. Ich lasse alles Beiwerk beiseite. Schon in dem
zweiten Abschnitt des Präludiums wird die Voraus-
setzung festgestellt, die in der Technik gültig, stets als
iiicher erscheint: niemand wird etwas lieben in Hinsicht
auf das, wozu es unnütz, unbrauchbar ist. Die eigent-
liche Untersuchung geht von der Liebe des Guten zum
Guten aus, die so offenbar ist, und erklärt sie als um
der Aehnlichkeit willen. Aber ein doppelter Gedanken-
gang weist das ab. Denn es ist ebenso gewiss, dass ein
Freund nützlich ist. Der Aehnliche aber, insofern er
mir ähnlich ist, kann mir nichts nutzen, hat also auch
keinen Wert für mich. Und zweitens ist der Mensch, in-
sofern er gut ist, sich selbst genügend, als guter Mensch
also kennt er keine Werte, also auch keinen Freund.
Wir sehen : wie Sokrates im Protagoras das Angenehme
im Guten mitbefasste, so trägt für ihn auch der Be-
griff der Freundschaft die beiden Seiten in sich des
ethischen Verhältnisses und des utilitarischen. Wir sehen
aber auch schon, wie hier eines das andere zerstört. Die
Untersuchung will nun umgekehrt von dem Utilitarischen
ausgehen. Man liebt das, dessen man bedarf, also was
— 74 —
-man nicht hat, das einem entgegengesetzt ist. Aber
hier stossen wir wieder auf die absoluten Gegensätze
gut und böse, gerecht und ungerecht, zwischen denen
keine Brücke ist. Noch tiefer zu fassen sucht der dritte
Ausgangspunkt, der nun ¥on Flato selbst erfunden ist,
indem er zwischen die starren Gegenüberstellungen der
zwei entgegengesetzten Begriffe einen Mittelbegriff ein-
schiebt, als den Ausdruck seines dualistischen Bewusst-
seins von der Gemischtheit alles Menschlichen: das
Indifferente ersehnt wegen eines Mangels, der an ihm
haftet, das Gute. Das war das eigenthche Pathos
seines Lebens» Aber noch ist das Garn so verwirrt,
dass es nicht frei werden kann. Das Gute erscheint
hier als Mittel gegen das Böse zum Zweck des Guten*
Dieses muss uns wieder um eines andern Guten willen
da sein, und so erscheint alles uns lieb um eines andern
willen. Schliesslich müssen wir auf einen letzten Zweck
kommen, einen absoluten Zweck, dessen Schattenbilder
und Mittel alle andern sind» Der aber hat seinen Wert
nur, weil ein Böses da ist, mit dem er wieder ver-
schwindet, an sich selbst hat er keinen Nutzen. Ein
letzter Versuch geht von dem Begehren aus, das auf
das Angehörige gerichtet ist. Aber dieses stellt sich
als identisch mit dem Aehnlichen heraus, das sich doch
als unnütz erwiesen hatte. „Zu dem Unnützen aber als
Freund sich zu bekennen, ist Frevel." Und selbst wenn
man zugibt, das Angehörige sei etwas anderes als das
AehnUche, gerät man in die alten Aporien. Schlag auf
Schlag geht am Schluss die Dialektik gegeneinander
und die Untersuchung kommt nicht weiter. Die Be-
griffe stehen sich starr gegenüber. Die Freundschaft
— 76 —
'ist bewusst als etwas Gutes und Schönes« Eine Mög-
lichkeit, Werte rationell zu begreifen, gibt aber — ab-
gesehen von der Lustordnung (s. oben) — nur das Ver-
hältnis von Zweck und Mittel, die utilitarische Be-
trachtungsweise. Das Nützliche soll im Begriff der
Freundschaft mit umfasst werden und kein Gedanke
bringt das zusammen.
Der Charmides versucht eine Definition der Be-
sonnenheit zu geben. Durch allerlei Zugeständnisse des
Sokrates — man vergleiche aber schon die Widerlegung
•der zweiten Antwort, wie hier der UtiUtarismus wirksam
ist — einigt man sich schliesslich dahin, dass der
besonnene Mann weiss, was er weiss und was er nicht
weiss. Denn Sokrates sagt, er habe im Gefühl, dass
Besonnenheit etwas Gutes und Nützliches sei. Mit einer
solchen Kenntnis könnte man aber sein Leben so ein-
richten, dass man selber tut, was man versteht, und
andere handeln lässt, wenn sie Bescheid wissen. Jede
Kenntnis nun bringt etwas Gutes, welche aber macht
den Menschen glücklich ? Die einzelne technische Kennt-
nis tut es nicht, auch alle zusammen nicht, sondern es
braucht eine ganz besondere, die von gut und böse. Die
Aporie ist hier versteckter, ähnlich wie im Protagoras.
Wie sie dem Mitunterredner erscheint, sieht sie nicht
aus. Denn die gesuchte Besonnenheit wird wohl jene
Wissenschaft vom Guten und Bösen sein, die eine Struk-
tur hineinbringt in das Leben, und der alles andere
Wissen dienen muss. Dies wird indessen nicht aus-
gesprochen, sondern die Frage, was ist Besonnenheit,
wird offen gelassen, einfach aus dem Grunde, weil Plato
wohl bewusst war, dass er die Begriffe einer solchen
— 76 —
-Wissenschafli, nämlich gut und böse, nicht hätte defi-
nieren können, ohne dass die Einheit derselben aus-
einjanderfiel in die Kenntnis der einzelnen Techniken,
-die er gerade vorher abgewiesen hatte. „Nicht ein kun-
diges Leben betrirkt unser Glück und Wohlergehen,
noch das nach allen andern Kenntnissen insgesamt ein-
gerichtete, sondern allein das nach der Kenntnis geleitete,
die sich auf das Gute und Böse bezieht.*' Jede einzelne
Technik erfüllt einen Zweck, aber damit alles auf eine
gute und nützliche Weise geschehe, bedarf es dieser
ethifich-utilitarischen Wissenschaft. Das Bewusstsein ver-
langt eine höhere einheitliche Form der Lebensgestaltung,
aber da der Nutzen mit in das Ziel aufgenommen ist,
so muss bei der nächsten Frage, z. B. ob die Gesund-
heit etwas Gutes sei, die einzelne Technik wieder auf-
kommen, weil sie eben bestimmte Zwecke erfüllt.
ImEuthyphron erhält das alte Problem dadurch
eine neue Beleuchtung, dass das Verhältnis der Götter
zur Tugend mit in die Untersuchung gezogen wird. Der
Begriff Soioc, um den es sich zunächst handelt, wird
definiert als das, was den Göttern angenehm ist. Wenn
nun von Menschen die Rede wäre, dann wäre das An-
genehme nicht eindeutig zu bestimmen, denn während
es in allen andern Techniken, in den Mess- und Kechen-
künsten über das Sichtige gar keinen Streit gibt, sondern
der Kundige entscheidet, gibt es über die Begriffe gut
und böse , Recht und Unrecht keine Einigkeit. Man
sieht, wie hier das Ethische gleich wieder mit dem An-
genehmen zusammengegriffen wird. Nehmen wir nun
aber auch an, dass die Grötter über diese Begriffe alle
derselben Meinung wären, dann fragte es sich immer
— 77 —
noch, warum sind sie ihnen angenehm. Bei den Göttern
kann Yon Nutzen nicht die Rede sein^ und so bricht die
Untersuchung, da dann die Mittel rationaler Bestimmung
fehlen, gleich im Anfang ab.
Im grossen Hippias kommt zu den beiden Aus-
drücken, in denen Sokrates das Ethische begreift, noch
ein dritter hinzu, das Schöne. Eine rationale Aesthetik
soll gefunden werden. Von vornherein will Sokrates
das Wesen des Schönen definieren als das, was den
Grund abgibt, warum etwas schön ist, nicht warum es
schön erscheint, also mit einer ethischen Spitze statt
einer ästhetischen, und er identifiziert dann schön und
brauchbar. „Wir beobachten die natürliche* Beschaffen-
heit eines Gegenstandes, seine Verfertigung, Stellung,
und nennen das Brauchbare schön, insofern es brauchbar
ist, das Unbrauchbare aber hässlich." Die Definition
wird dann noch vertieft, dass nur das zum Guten und
Nützlichen Brauchbare gemeint sei. Jetzt haben wir alle
drei Begriffe zusammen, das Gute, das Nützliche und
das Schöne, aber im Augenblick gleiten sie wieder aus-
einander. Denn das Nützliche ist das Mittel, das seinen
Wert nur zu Lehen trägt, und wenn das Schöne gleich
dem Nützlichen ist, dann sind schöne Gestalten, schöne
Satzungen, Weisheit nur Mittel zum Guten, haben keinem
Selbstwert, und das Schöne wäre nicht gut, und das Gute
wäre nicht schön — dagegen sträubt sich das ganze
Gefühl.
Ein zweiter Ansatz sucht das Schöne zu verstehen
als die sinnliche Erscheinung, die nur Genuss schafft
durch Auge und Ohr. Aber hier gibt es kein Mittel
den Grund zu sagen, warum nun dieser Genuss 6in
4
-^ 78. -^
anderer ist wie der, der aus Essen und Trinken besiehti
oder man muss ihn wieder als unschädlich und nützlich
bezeichnen. Es drängt alles dazu, eine besondere Wesen-
haftigkeit des Schönen anzunehmen, aber noch ist das
Bewusstsein davon nicht da, und die Begriffe führen ein
verwirrendes Spiel auf.
Es ist immer dasselbe, die Dialektik scheitert, weil
die Kategorien der Technik, von denen sie ausgeht und
mit denen sie denken muss, Mittel und Zweck, versagen
gegenüber der überragenden Inhaltlichkeit des sittlichen
Bewusstseins.
Immer breiter wächst in Piatos Denken diese Aporie
empor, immer neue kommen dazu. Im kleinen Hippias
wird bewiesen, dass derjenige, der absichtlich unrecht
tut, besser ist als derjenige, der es imabsichüich tut.
Wohl lagert hier im Hintergrund der sokratische Satz,
dass niemand mit Absicht das Böse tut, und man hat
den Dialog so erklärt, als fände die Aporie darin ihre
Auflösung. Aber dann würde der Dialog auf einen
Witz angelegt sein, man begreift nicht, warum die Er-
innerung an den sokratischen Satz so absichtlich ver-
mieden ist. Auch hier ist die Aporie eine tatsächliche.
Hippias sagt: Das kann ich dir unmöglich zugestehen,
lieber Sokrates, und Sokrates antwortet: „ich mir selbst
nicht einmal.'^ Ich glaube nun auf keinen Fall, dass
dies Ironie sein soll, dagegen spricht der starke Ernst
der vorangegangenen Untersuchung, vor allem aber jene
Stelle in der Mitte des Dialogs, in der sich Hippias auf
sein sittliches Gefühl beruft und auf das Gesetz, das
denjenigen, der absichtlich unrecht tut, mehr bestraft
als denjenigen, der es unabsichtlich tut. Und Sokrates
\
— 79 —
antwjbrtet: „Mir stellt sich in allem das Gegenteil dar,
diejenigen, die absichtlich andern schaden, unrecht tun,
lügen, betrügen, sind besser, als wer es ohne Absicht
tut. Bisweilen jedoch bin ich entgegengesetzter Meinung
und treibe mich darüber in die Irre, offenbar weil ich's
nicht weiss. In diesem Augenblick aber hat mich eine
Art Fieberanfall getroffen und es scheint * mir besser, wer
absichtlich lügt usw. Die Schuld an meiner gegenwärtigen
Stimmung trägt unsere vorangegangehe Untersuchung."
Diese aber war ausgegangen von der Technik: der
Wissende konnte immer am besten die Unwahrheit sagen
und darum war der gute Lügner und der, der die Wahr-
heit sagt, einander gleich. Das sittliche Bewusstsein
sträubt sich aber dagegen, dass hier ein Unterschied,
der für das Wissen allerdings nicht da ist, auch ethisch
nicht vorhanden sein soll, und anstatt nach dem sokra-
tischen Gedanken hinüberzuleiten, dass der Wissende
immer richtig handelt, spitzt sich der Dialog zu einem
Zusammenstoss mit dem logischen Baisonnement zu, in
dem das letztere einen Augenblick zur Herrschaft ge-
kommen ist, aber ein quälendes Gefühl bleibt, dass dieser
Sieg ein unmöglicher ist, weil der theoretische Satz am
Ende seine Gültigkeit doch nur in dem sittlichen Be-
wusstsein findet, und weil das sittliche Bewusstsein des
Plato den Dualismus kennt, der durch die Welt geht
und nichts weiss von jener sonnigen Selbstverständlich-
keit des guten Willens, wie sie in Sokrates lebtet
Eine weitere Aporie zeigt sich im Lach es. Auch
hier steht im Hintergrund eine sokratische Auflösung.
^ Hier findet der Phadrus die Lösung.
— 80 —
Der Protagoras, der dasselbe Problem auch behandelte^
müsste dann die Antwort sein und der Laehes wäre
weiter nichts als eine Vorstudie, die Aporie wirklich nur
ein Kunstmittel. Ich glaube aber, dass jetzt die sokra-
tische Antwort nicht mehr zufriedenstellt, sondern dass
im Bewusstsein eine neue Voraussetzung lebendig ge-
worden ist, die mit ihr im Widerspruch steht, und dass
der Dialog auf diesen Gegensatz gebaut ist. Um
sich methodisch die Untersuchung zu erleichtem, will
man sie nicht über die ganze Tugend führen, sondern
nur über einen Teil, die Tapferkeit. Diese wird be-
stimmt als ein Wissen. Vor dem entscheidenden Schlag
heisst es dann: „Gib uns noch einmal von Anfang an
Bescheid. Erinnerst du dich, dass wir, Laehes und ich,
zu Anfang unserer Unterredung die Tapferkeit als einen
Teil der Tugend bestimmten? Sahst du, l^iMas, sie
nun nicht auch bei deiner Erklärung als einen Teil an,
deren es gewiss noch mehrere gebe, die alle mit dem
!Ramen Tugend bezeichnet werden? Ich nenne nämlich
ausser der Tapferkeit auch noch die Besonnenheit und
die Gerechtigkeit und einige andere dergleichen.** Der
Mitunterredner gibt das zu und Sokrates konstatiert:
„hierüber waren wir einig.** Der Fortgang der Unter-
suchung zeigt dann aber, dass, wenn Tapferkeit ein
Wissen ist, sie die Kenntnis des Guten und Bösen sein
muss, dass also die Tapferkeit nicht ein Teil der Tugend,
sondern die ganze Tugend sein muss. Dann ist aber
der Begriff der Tapferkeit nicht so definiert worden,
wie er in dem sitüichen Bewusstsein lebt^
^ Aus diesem Widerspruch führt erst die Psychologie der Re-
publik hinaus.
— 81 —
Die sokratische Methode war die ehrlichste, die es
jemals gegeben hat. Indem sie nur aussprechen wollte,
was ist und zwar in der ganzen Ausdehnung des all-
gemeinen Bewusstseins, musste sie zu Ergebnissen führen,
die der Individualität des Sokrates über den Kopf
wuchsen. Und weil sie bei jedem auf das sittliche Be-
wusstsein als den eigentlichen Erkenntnisgrund wies,
mussten die Schüler mit ihren subjektiven Erfahrungen
heraustreten, und so erhoben sich überall die Indivi-
dualitäten mit ihren eigensten sittlichen Erlebnissen. Die
alten Aporien verschwanden, neue traten an ihre Stelle.
Wichtiger aber noch als die freie Entfesslung der Mög-
lichkeiten ethisch einseitiger Bestimmung, die diese Männer
repräsentieren, war, dass ihnen aus dem Schicksal ihres
Lehrers, seiner Philosophie, wie seines Todes, aus der
hohen XJeberzeugung und ruhigen Gewissheit seines Ster-
bens die Erkenntnis eines höheren Lebens aufging, das
in dieser Welt nicht rein zur Erscheinung kommen
kann, so wenig, wie es sich im Wissen vollständig dar-
stellen lässt. Dass der Mensch verwandt mit den Göt-
tern sei, hatten die Dichter auch schon verkündet, das
war tief im indo-germanischen Bewusstsein gegründet.
Jetzt war die Aufgabe gegeben, diesen metaphysischen
Zusammenhang zu bestimmen und begrifflich fassbar zu
machen. Das Problem dieses höheren Lebens, wie es
in der Person des Sokrates und seinem Schicksal sich
zeigte, wurde der Ausgangspunkt einer neuen Philosophie.
Wie die Schüler sahen, dass der Meister die Eudämonie
auch dem Tode gegenüber behielt, den er freiwillig auf
sich nahm, um seine Gerechtigkeit zu bewahren, ver-
schwand der Wert der Güter dieser Welt, die ihn ver-
Nohl, Sokrates nnd die Ethik. ^
— 82 —
urteilte. Diesen Schritt tat Plato (Gorgias, Apologie,
Kriton) wie Antisthenes und wahrscheinlich auch Euklei-
des. Der Wert eines Lebens wurde nun bestimmt nach
seinem Anteil an einem höheren Dasein. Das war völlig
unsokratisch, und manche seiner Schüler gingen auch
andere Wege, aber es war die Fassung einer Wahrheit,
die sein Leben offenbarte. Und wie er trotz des höch-
sten Besitzes aller Tugenden und geistigen Schönheit
bis zuletzt seine Unwissenheit behauptete, musste den
Schülern die Frage nach dem Wesen jener Parusie ent-
stehen, in der sich ihnen die transzendente Welt auf-
tat, und nach dem Verhältnis des Wissens, wie es
Sokrates suchte, zu diesem Gehalt der Seele. Die Be-
deutung des Begriffs, der für Sokrates nichts weiter war
als die systematische Beschreibung des logischen Zu-
sammenhangs seines empirischen Bewusstseinsgehaltes,
mit der er sich aber doch der Wahrheit des einzelnen
WoUens vergewissern wollte, und in der ihm schliesslich
jeder Wert gegründet schien, wurde problematisch.
Hier ging Antisthenes zuerst über ihn fort. Mit
einem Euck zerreisst er die Fesseln der Dialektik. Tu-
gend ist eine Sache der Tat und bedarf der Worte und
der Gelehrsamkeit nicht. Es genügt die Stärke eines
Sokrates. So interpretierte er sich das Schicksal seines
Lehrers. Die Eesultatlosigkeit seiner Dialektik bewies
ihm die Unmöglichkeit einer positiven Begriffsforschung.
Er bildete die Antilogien des Protagoras fort, deckte vor
aUem die Schwierigkeit des Begriffebildens, ihrer Ver-
bindung im Satz, ihrer Uebertragbarkeit, vom nomina-
listischen Standpunkt aus, auf und benutzte sie zur Eristik,
zur blossen Zerstörung des Wissens und Befreiung des
— 83 —
Willens. Die Wahrheit ist nur im Eindruck gegeben.
Alles Gedachte ist wirklich, aber nicht wahr, denn die
oine Bedingung der Erkenntnis, das Subjekt, durch
welches jedes Sein vermittelt ist, kann verschiedene
Wertgrade haben und so das Göttliche in verschiedener
Beinheit enthalten. Darum ist suchen, lernen und irren
unmöglich. Der verschiedene Wahrheitswert kann nicht
in Begriffen ausgedrückt werden, denn jedes Wort spricht
immer ein ursprüngliches Element der Erfahrung aus,
das eben erlebt werden muss; und eine Definition ist
weiter nichts, als die in einem zusammengesetzten Gan-
zen enthaltenen und aufgewiesenen elementaren Bestand-
teile. So ist die Möglichkeit des Lehrens reduziert auf
das Vorbild der Tat, die aher nur auf die Empfäng-
lichen wirkt In der göttlichen Offenbarung der Sprache,
der Dichtung, des Beispiels grosser Individuen ist die
Wahrheit des Lebens gegeben. Wie sie mit Ueber-
gewalt dem Menschen sich aufdrängt und ihn ganz er-
füllt, ohne dass es da irgend eines Zusammenhanges
von Begriffen bedarf, hatte er selbst von Sokrates er-
fahren, und das war der Weg, den er seinen Schülern
zeigte. Seine E[ritik der sokratischen Begriffslehre musste
von Plato durchgemacht werden, und ein grosser Teil der
Werke desselben ist von den Problemen des Antisthenes
bestimmt.
Uns muss hier zunächst am wichtigsten der Eu-
thydem sein. Zu den Jugenddialogen gehört er nicht
mehr, das beweisen schon die wortstatistischen Unter-
suchungen. In ihm haben wir allerdings eine blosse
Streitschrift, hinter der das Wissen steht, das nicht aus-
gesprochen wird. Aber die Aporie, die hier dargestellt
— 84 —
wird, hat ein historisches Gesicht. Der Dialog will der
eristischen Protreptik des Antisthenes die wahre, positive
seines Lehrers gegenübei'stellen. So gewinnt er eine
paradigmatische Bedeutung. Während die groben Kerle
nur auf Widerlegung aus sind, geht Sokrates methodisch
auf die feste Erkenntnis zu. Schon Dtimmler^ hat ge-
zeigt, dass hier die Weisheit rein utilitarisch begründei
wird, weil sie den richtigen Gebrauch zu Nutz und
Glück lehrt, eine Beweisführung, die im Phädon ab-
gewiesen wird. Es fragt sich nun, ob das Mittel zur
Glückseligkeit jede Erkenntnis oder eine bestimmte ist.
Unbedingt gewiss ist, dass sie diejenige sein muss, die
uns etwas nützt. Die einzelnen Techniken verlangen
alle ein höheres Wissen des rechten Gebrauchs. Eine
Bestimmung dieser universalen Lebenstechnik aber will
nicht gelingen. „Wie Kinder, welche den Schwalben
nachlaufen, glaubten wir jede Wissenschaft gleich zu
fangen und dann flogen sie uns immer weg." Schliess-
lich bleiben sie stehen bei der königlichen Kunst, der
Staatskunst. Das Problem ist hier: welches ist ihr
eigentümliches Werk? Auf jeden Fall muss es nützlich
sein, also etwas Gutes. Gut ist aber nichts anderes, wie
am Anfang bestimmt worden war, als eine gewisse Erkennt-
nis. Hier erscheint der Zirkel, den der Kleitophon her-
vorhob. Was ist das für eine Erkenntnis? Sie muss
das Mittel sein, andere besser zu machen. „Und wozu
sollen uns diese gut sein? und wozu nützlich? Oder
sollen wir noch weiter sagen, diese sollen wieder andere
gut machen und die wieder andere. Worin sie aber gut
< Akademika S. 273 f.
— 86 —
sind, das wird uns nirgends zum Vorschein kommen
Also dies wird offenbar das ewige Einerlei, und noch
ebensoviel oder gar noch mehr als zuvor fehlt daran,
dass wir wüssten, welches doch jene Erkenntnis ist, die
uns glückselig machen würde.** Aber auch die £[ritik
eines Mannes wie Isokrates — der am Schluss doch
wahrscheinlich gemeint ist und der in irgend einer Be-
ziehung zur Kritik des Kleitophon stehen mag — ver-
mag Piatos Glauben an die Richtigkeit dieses Weges
nicht zu erschüttern. Er hatte damals schon die Rich-
tung gefunden, die aus diesen Aporien hinausführte,
ohne in Subjektivismus und Mystik zu verfallen. Im
Menon hatte er sie zum erstenmal aufgezeigt.
Schon im Gorgias hat die Lust, die im Protagoras
noch das Mittel des Beweises für die Tugend als Er-
kenntnis abgab, mit dem Ziel des Menschen nichts mehr
zu tun. Das leidenschaftliche Ethos des Menschen, dem
der Dualismus des Daseins bewusst geworden ist, stösst
in ihm wie in Antisthenes diesen Teilinhalt menschlichen
WoUens von sich — man erinnere sich an das wilde
Wort des Kynikers (iavetY]v (loXXov 7) iQ0&6tY]v. Im Menon
tritt noch einmal das Geständnis des Nichtwissens mächtig
heraus. Die Voraussetzung, dass der Mensch das Gute
immer will, bleibt bestehen, der Unterschied der Menschen
besteht im Können. Auch das Problem des Laches ist
immer noch ungelöst. Aber das Problem der Lehrbar-
keit wird im Kampf gegen Antisthenes durch die Ideen-
lehre beseitigt. Einig ist er mit ihm, dass es ein En-
thusiasmus ist, der die Grösse des Menschen macht und
dass sich in den Taten des Dichters, Religiösen, des
Staatsmanns und vor allem des Philosophen eine gött-
— 86 —
liehe Welt offenbart. Aber diese göttliche Welt — und
damit tritt er ihm schroff entgegen — ist selbst ein ge-
gliederter Zusammenhang, der durch die Begriffe und
deren Beziehungen ausgedrückt ist, die keiner empirischen
Erfahrung entnommen werden können, da sie geben, was
in keiner Wahrnehmung getroffen wird , Einheit , Zu-
sammenhang, XJn Vergänglichkeit und Allgemeingültigkeit.
In diesen einheitlichen Zusammenhang lässt sich die
Welt der Erscheinungen einordnen, wie das Subjekt
unter das Prädikat, von dessen metaphysischer Realität
alle Ordnung, Festigkeit und Allgemeingültigkeit abgeleitet
ist. Mit der Möglichkeit der Wiedererinnerung an diesen
Zusammenhang der „Ideen ^, der in einer transzendenten
Erfahrung erschaut wurde, und deren Logik sich die
empirische Welt einfügt, weil sie selbst in dieser Ge-
setzmässigkeit gegründet und nur so weit real ist, als sie
an ihr Teil hat, ist die Möglichkeit des Wissens bewiesen,
— natürlich nur hypothetisch, dessen ist sich Plato immer
bewusst geblieben. Auf der Grundlage der Lehre von
der göttlichen „Orthodoxie", die er mit Antisthenes teilt,
hat er so eine Wissenschaftslehre aufbauen können, die eine
Begründung und Organisation der Einzelwissenschaften
ermöglicht, die Dialektik als die Lehre von der Logik
des Universums, deren schwierigstes Problem von nun
ab das Begreifen des Verhältnisses der empirischen
Welt zur transzendenten war. Die Versuche Piatos, es
mit seinen logischen Formen der Zusammenfassung und
Einteilung auszudrücken, mussten misslingen; er fand
einen ebenbürtigen Nachfolger in diesem ungeheuren
Unternehmen menschlicher Denkenergie erst wieder in
der Logik Hegels, die auf dem Boden dei' Transzendental-
— 87 —
Philosophie, als der Entwicklung des gesetzmässigen Zu-
sammenhanges des Bewusstseins dasselbe wollte — auch
hier natürlich vergeblich. Wichtiger doch als diese
logische Interpretation des Zusammenhanges der Welt
war der ethische und künstlerische Lebensgrund, aus
dem sein dualistischer Idealismus herauswuchs und der
in immer neuen Bildern seine Erfahrungen und Ahnungen
aussprach. Flato wusste wohl, dass sich dem nur sym-
bolisch beikommen lässt. Hier setzte später der Neu-
platonismus, dem das geschichtliche Problem der Welt-
entwicklung aufgegeben war, mit seiner neuen Meta-
physik ein. Plato begnügte sich für alles, was über die
zeitlose Ordnung der Formen und Gesetze hinausging,
mit der mythischen Darstellung. Im Phädrus hat er
zum erstenmal den metaphysischen Hintergrund der
neuen Sittlichkeit, die schon im Gorgias verkündet war,
offenbart. Hier sind alle Erfahrungen des Bewusstseins,
die von den sokratischen Voraussetzungen aus unfassbar
waren, erklärt. Ich brauche das nicht darzustellen. Das
Wichtigste ist, dass die Zwiespältigkeit des Menschen,
sein Kampf und seine Sehnsucht nach Reinheit und
Vollendung der neue Ausgangspunkt ist, anstatt jenes
unbedingten Willens zum Guten, der jedes Gut freund-
lich anerkennen kann, weil er den schamlosen Affekt
nicht kennt. Anstatt der Lust, von der „ein Dämon
allen schlechten Dingen eine Spur beigemischt hat", soll
der Mensch dem Gesetz der Seele folgen. Das ist nicht
„die sterbliche Besonnenheit" und „jene von der Menge
als Tugend gelobte Gemeinheit" der utilitarischen Ueber-
legung, sondern die Erhebung in den göttlichen Zu-
sammenhang durch die dialektische Entwicklung des
— 88 —
kosmischen Gehalts der Seele zu seinen reinen Formen,
und Steigerung des irdischen Lebens zur höchsten Gre-
walt durch die Nachbildung ihrer Schönheit und Durch-
führung ihrer Gesetzmässigkeit. Wie realistisch das ge-
meint ist, sieht man in der Republik, wie asketisch Plato
es bisweilen verstand, im Phädon ^ — das war der Ein-
druck des sokratischen Lebens, der auch bei Antisthenes
zur Weltabkehr führte, nur dass Piatos objektivem Geiste
das höchste Gut immer jene Ordnung der Welt blieb,
wenn sie auch transzendent war. Je mehr aber sein
Geist auf den Zusammenhang der erscheinenden Welt
und ihr Verständnis gerichtet war, gewann er auch wieder
ein klares Auge für die Gesamtheit menschlicher Werte.
Im Philebus und in den Gesetzen ist die Lust, wenn
auch nur .bestimmte Formen derselben, wieder in den
Kreis des Guten aufgenommen. Auf diese Entwicklung
kann hier nicht eingegangen werden. Nur noch dies
eine. War nach dem Staat die Ordnung d^r Ideen
schliesslich in der Idee des Guten gegründet, so will der
Philebus den Inhalt dieser Idee bestimmen und findet
ihn in dem Mass, als dem fundamentalen Ordnungs-
prinzip, auf dem alle übrigen Güter, vor allem Schön-
heit und Wahrheit, Wissenschaft und reine Lust ruhen.
Tief gefühlt ist der metaphysische Wert jeder Tat, die
der Mensch gegen sich selbst durchsetzt und die hier
erscheint als die Einordnung in die universale Gesetz-
lichkeit, deren Zusammenhang der Mensch in sich trägt
und dem jede seiner Handlungen gemäss sein muss, wenn
* Ueber diese Doppelseitigkeit vgl. Dilthey, Ueber die
Funktion der Anthropologie. Berl. Akademiebericht, Phil, histor.
Klasse 1904, I 5.
— 89 —
er die Einheit seines Gemüts behaupten will. Aber es
ist leicht zu sehen, dass diese „reine Gesetzordnung" \
so gewaltig sie als lebendiges Motiv wirksam ist, für die
einzelne Zweckbestimmung genau so leer ist, wie das
sokratische Wissen es war, und kein rationales Kriterium
für das einzelne Tun abgibt^.
> Natorp a. a. 0. S. 328.
' Diese Arbeit ist der vollständige Abdruck meiner Disser«
tation. Die seither neu erschienene Literatur habe ich nicht mehr
berücksichtigen können, insbesondere das Buch von G-omperz,
^Die Lebensanschauungen der griechischen PhUosophen**, und das
von Horneffer, „Plato gegen Sokrates". Mit beiden werde ich
mich an anderer Stelle auseinandersetzen.
:Nohl, Sokrates and die Ethik.
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen und Leipzig.
Vom
Werden dreier Denker.
Fichte - Sdielllng - Schleiermacher*
\?on
[lic. Smil FuchS/
Repetent cn der Universität Slessen.
8, 1904. m. 5.-.
Fichtes Idealismus
und die Geschichte.
Von
Dr. Emil Lask.
Gross 8. 1902. M. 6.—.
Johann Heinrich Lamberts Philosophie
und seine Stellung zu Kant.
Von
Dr. O. Baensch.
8. 1902. M. 2.—.
Dr. Heinrich Rickert,
Professor an der Universität Freiburg i. B. :
Der Gegenstand der Erkenntnis.
Einführung in die Transzendentalphilosophie.
Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage.
8. 1904. M. 4.—.
Kuhurwissenschaft und Naturwissenschaft.
Ein Vortrag.
8. 1899. M. 1.40.
Die Grenzen der naturwissenschaftHchen
Begriffsbildung.
Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften.
8. 1002. M. 15.—. Gebunden M. 17.50.
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen und Leipzig.
Aus
den großen tagen der deut(d)en Pbilo(opbie.
hic. theol. S. SA,
leftl Profellor In Sieben.
Klein 8. 1901. in. 1.80. Gebunden m. 2.60.
Inhalt: Kant und die Erhabenheit des Geiltes Ober die Ratur.
-« ßegel und der £ntwicklungsgedanke. -« Sdileiermadier und die
Selbftflndigkeit der Religion.
Wilhelm Windelband;
Fidites Sdee des deutfdien Staates.
8. 1890. m. 1.-.
Vom System der Kategorien.
(Aus den „Philosophischen Abhandlungen^,
Christoph Sigwart zu seinem 70. Geburtstage, 28. März 1900,
gewidmet.)
Gross 8. 1900. M. —.60.
Lehrbuch der Geschichte der Philosophie.
Dritte, durchgesehene Auflage.
Lex. 8. 1903. M. 12.50. Gebunden M. 15.—.
Präludien.
Huiid^e und Reden zur Einleitung in die PhiloFophie.
Zweite, vermehrte fluilage.
Klein 8. 1903. Hl. 6.60. Gebunden m. 7.60.
Inhalt: Was iit Philoiophiet -- Über Sokrates. -* Zum Gedddit-
nis Spinozas. -« Immanuel Kant. - Über Friedridi ßdiderlin. -^ Bus
Goethes Philoiophie. -« Qber Denl^en und Tladidenken. -^ normen und
Raturgeie^e. -« Kritifdie oder genetifdie ITlethodet -« Pom Prinzip der
moral. - Das ßeilige. Eine Sliif^e zur Religionsphiloiophie. -« Sub
specie aeternitatis. Eine ITleditation.
aber Willensfreiheit.
Zwölf Porlefungen.
8. 1904. m. 3.60. Gebunden ITl. 4.50.
C. A. Wagners Universit9ts-Buchdruckeret, Freiburg i. Br.
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SoMalM und UM EOMK I
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